Meine Schwiegermutter trinkt - Roman
hatte er um eine Oktave tiefer gelegt). »Aber es gibt einen Grund, glauben Sie mir.«
Ich für meinen Teil konnte nicht anders und starrte in Richtung Matrix. Der kam immer näher, schien sich bei näherem Hinsehen jedoch nicht sonderlich für uns beide zu interessieren.
»Schauen Sie bitte nicht zu ihm hin«, bat mich Ingenieur Romolo Sesti Orfeo leise.
Ich antwortete, ebenfalls gedämpft: »Hey, hören Sie, ich weiß nicht, was Sie vorhaben, aber was auch immer es ist: Ich will nichts damit zu tun haben.«
Und er, immer noch wispernd: »Dann gehen Sie jetzt besser, Herr Rechtsanwalt, denn gleich passiert was, das Sie sich vielleicht lieber nicht mit ansehen möchten.«
Moooment.
Soeben habt ihr die Sorte Satz gehört, bei der ihr praktisch keine Wahl habt: Wenn euch jemand mit der Ankündigung, dass gleich etwas passieren wird, was ihr besser nicht sehen sollt, auffordert zu gehen – was macht ihr da? Geht ihr? Oh nein, das könnt ihr nicht. An dem Punkt steckt ihr nämlich schon mittendrin. Und das Schlimmste ist: Ihr wisst noch nicht mal, wo rin. Vielleicht in einer Tragödie, die ihr möglicherweise verhindern könntet? Vielleicht soll gleich jemand sterben, den ihr retten könntet, wenn ihr bleibt? Klar, es könnte natürlich auch rein gar nichts passieren – diese Möglichkeit besteht immer (in meinem Fall wäre theoretisch denkbar, dass Ingenieur Romolo Sesti Orfeo es darauf angelegt hatte, Mister Matrix abzuschleppen): Dann könntet ihr euch praktischerweise mit eurem Mut brüsten, ohne einen Finger krumm gemacht zu haben.
Die Alternative wäre, schnellstmöglich abzuhauen und die Polizei zu rufen: aber wenn die Tragödie genau in dem Augenblick losbricht, in dem ihr Hilfe sucht? Um eine Tragödie loszutreten, braucht es bekanntlich nur Sekunden. Was macht ihr also? Geht ihr wirklich das Risiko ein, den entscheidenden Moment zu verpassen, indem ihr euch vom Ort des Geschehens entfernt? Das Carpe diem funktioniert auch im tragischen Register, das muss euch klar sein. Das schlechte Gewissen würde euch zeitlebens plagen, wenn ihr es versaut, und das ganz zu Recht. Klar, ihr würdet selbstverständlich versuchen, euch rauszureden à la: ›Ich hätte ja doch nichts tun können‹; aber das Gewissen würde euch unerbittlich antworten: ›Stimmt, aber das wusstest du nicht, als du abgehauen bist.‹
Tatsache ist, dass es Situationen gibt, in denen man dableiben muss, auch auf die Gefahr hin, sich zu kompromittieren. Tut mir leid, das sagen zu müssen, aber es ist so. Von außen ist es leicht, den Kopf zu schütteln. Aber macht ihr erst mal so was mit, dann sprechen wir uns wieder!
Nur mal als Beispiel: Ich kenne Leute, die ein paar Monate vor ihrer Hochzeit plötzlich von heftigen Zweifeln befallen wurden (wenn man ihnen begegnete, konnte man förmlich sehen, wie der Wankelmut sie durchschüttelte), und obwohl man es ihnen vom Gesicht ablesen konnte, dass sie die Hochzeit am liebsten hätten platzen lassen, war genauso klar, dass sie niemals den Mumm haben würden, eine Revolution loszutreten und alles abzusagen. Den armen Teufeln blieben also nur noch Übersprungshandlungen. So was wie am frühen Nachmittag spazieren zu gehen.
Um es euch ganz klar zu sagen: Die ganze Freiheitsrhetorik von wegen man könne selbst die wichtigen Entscheidungen im Leben jederzeit wieder rückgängig machen, ist nur ein Märchen. Vollkommener Unsinn. Die Zeit vergeht, und keiner kann über sie verfügen. Die Zeit duldet keine Unwissenheit. Genauso wenig wie das Recht. Das Verjährungsprinzip beruht nicht umsonst auf der Grundlage von Zeit. Wenn der Gesetzgeber (was in diesem Feld fast so viel heißt wie Gott) aber einen der wichtigsten Mechanismen der Rechtsprechung auf das Vergehen von Zeit gegründet hat, wird es auch einen Grund dafür geben, sollte man meinen. Die Zeit hat ihre Wirkung, das ist nun mal so. Und so sind die, die ihre Verlobte am Altar sitzenlassen (interessanterweise ist mir noch nie eine umgekehrte Konstellation untergekommen), Leute, die der Zeit den Rücken kehren. Auch wenn ihre Tat in der Erzählung späterer Generationen tendenziell als Bravourstück gehandelt wird, das nur wenige auf der Welt fertiggebracht haben – ihr Ruf als freie Menschen müsste ein für alle Mal zurechtgestutzt werden, denn an der Demütigung einer Frau vor Verwandten und Freunden ist nichts Lobenswertes, nicht mal dann, wenn bereits die Bonbonnieren fürs Hochzeitskonfekt ausgesucht sind. Selbst wenn es hässliche sind.
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