Meine Seele weiß von dir
viele Frauen, die dieses Schicksal mit mir teilten. Und unglaublich viele Menschen in ihrem Umfeld, die den Grad ihrer Trauer und Verzweiflung nicht nachvollziehbar fanden.
Der Inhalt half mir sogar, anders über den Tod zu denken, als ich es in der Vergangenheit getan hatte, den Verlust aus einer neuen – wenn auch für mich ungewöhnlichen - Perspektive zu sehen: Womöglich war es die Entscheidung meines Kindes gewesen, nicht geboren zu werden.
Konnte so etwas wirklich sein?
Neben Erlebnisberichten, gab es auch psychologische Hilfestellungen und Anregungen, in welcher Form man den Schmerz verarbeiten könnte. Durch Malen beispielsweise. Oder Schreiben. Bei mir war es ein Gedicht, das ich noch in derselben Nacht schrieb: Fehlgeboren.
Zum ersten Mal seit Tagen empfand ich einen Anflug von Mitleid für Leander. Zu gering, um ihn anzurufen. So weit war ich noch nicht. Trotzdem zog ich es flüchtig in Erwägung, bis die Wogen der Erbitterung erneut über mir zusammenschlugen.
Das Telefon läutete, als hätte es meine Gedanken erraten. Mein Herz ratterte wie ein kaputter Motor. In meinem Mund machte sich ein trockener, pappiger Geschmack breit bei dem Gedanken, dass er es sein könnte.
Am anderen Ende der Leitung ertönte Ricks Stimme. „Hey, alles okay?“
„ Nichts ist okay, Hendrik.“
„Soll ich vorbeikommen?“
Dieser Gedanke war für mich tröstend und gleichzeitig völlig abwegig. Ich umklammerte den Hörer, während ich überlegte, wie ich absagen konnte, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen. „Es ist kurz vor zwei, mitten in der Nacht.“
„Das kann man so oder so sehen.“ Er lachte leise. „Eigentlich ist es früher Morgen. Du schläfst nicht – ich schlafe nicht, denn ich bin gerade erst aus München zurückgekommen. Ich habe Moni für ein paar Tage zu ihren Eltern gebracht. Ehrlich gesagt, bin ich ganz froh darüber. Sie klammert entsetzlich in letzter Zeit! Ich sitze noch im Wagen. Hellwach.“
„Ich sehe grauenvoll aus, Hendrik!“
„ Das riskiere ich .“
Wie sollte ich Nein sagen? Er war es schließlich gewesen, der mich in den bisher schwersten Stunden meines Lebens begleitet hatte. Und momentan brauchte ich jemanden, der einfach nur da war.
„Gut, einverstanden. Ich habe frischgebackenen Apfelkuchen. Aber keine Sahne. Magst du?“
„Bin in ein paar Minuten bei dir.“
Ich stellte den Kuchen, den Lisa mir eingepackt hatte, auf den Tisch und schaltete die Kaffeemaschine ein.
Dann ging ich ins Bad, putzte mir die Zähne, kämmte mein Haar und erneuerte mein Make-up. Keine Ahnung, warum ich das tat. Ich hatte gerade Parfum aufgelegt, da hörte ich seinen Wagen in der Auffahrt. Es war zehn Minuten nach zwei, als er an der Tür klingelte.
*
Neben mir versteift Leander sich unvermittelt.
Ich umklammere seinen Oberarm. „Soll ich aufhören?“
„Nein.“
„Bist du sicher?“
Er zuckt mit den Schultern. Seine Augen werden zu kühlen, schmalen Schlitzen, ganz so, als wäre er ein Scharfschütze. „Ja. Indem wir sie ignorieren, verändern wir die Vergangenheit nicht, oder? Und wir machen sie auch nicht ungeschehen.“
„ D ie ganze Zeit über wollte ich mich immer nur erinnern und erinnern! Aber jetzt, wo es so weit ist, möchte ich bloß noch eins.“
Er zieht fragend die Brauen in die Höhe.
„Alles wieder vergessen.“
„Hast du Angst, es mir zu erzählen?“, fragt er mit gedämpfter Stimme.
„Ja!“
„Nun, und ich habe Angst, es zu hören. Verflucht nochmal! Ich glaube, ich habe selten solche Angst gehabt.“ Er fährt sich mit allen zehn Fingern durch das Haar, danach hängt ihm eine Strähne in die Stirn. „Eigentlich noch nie.“
Ich strecke die Hand aus, um sie zurückzustreifen, ziehe sie wieder zurück und strecke sie noch mal aus, ehe ich sie endgültig sinken lasse.
Er bemerkt nichts davon.
„Womöglich ist es besser, nicht daran zu rühren“, schlage ich zaghaft vor.
„Nein. Nein, das glaube ich nicht.“ Seine Stimme klingt belegt und der nachfolgende Satz wie eine Frage: „Ich denke, es ist besser, die Wahrheit zu kennen, als sich den Rest seines Lebens mit unbeantworteten Fragen herumzuschlagen.“
„Ja. Der Gedanke ist mir auch gekommen.“
Es folgt ein Moment der Stille.
Er nimmt mein Gesicht zwischen seine Hände, ganz sachte, und zieht es zu seinem heran. Warmer Atem streift meine Haut. Ich wage nicht, mich zu bewegen.
„Was hältst du von einer Pause, Sina?“ Seine vollen Lippen verziehen sich zu einem resignierten
Weitere Kostenlose Bücher