Meine Seele weiß von dir
musste anschließend in ein Krankenhaus eingeliefert werden, weil sie unter extrem starken Krämpfen litt. Beim ersten Mal wurde sie mit Schmerzmitteln wieder nach Hause geschickt, beim zweiten Mal war es zu spät: Sie starb im OP.
Im Autopsiebericht stand, dass die Abstoßung der Frucht unvollständig gewesen war. Körperteile des Fötus waren in der Gebärmutter zurückgeblieben. Sie lösten eine schwere Infektion und schließlich einen massiven septischen Schock aus, der tödlich endete.
Der Bericht war mir an die Nieren gegangen. Das Mädchen war doch selbst noch ein Kind gewesen.
Leanders Atemzüge gingen schnell und laut und er hörte sich an wie ein sehr alter Mann. „Du hast, ohne auch nur ein Wort mit mir darüber zu reden, abgetrieben?“
„Ja.“
„Aber warum?“ Er schrie. „Du hast dich doch auf das Kind gefreut!“
„Das tue ich noch. Mich auf ein Kind freuen, meine ich. Aber keinesfalls mit dir. Du denkst doch nur an deine Arbeit. Deine Familie ist dir egal.“
Er keuchte oder würgte - so genau war das nicht zu unterscheiden; und es war mir auch egal. Wichtig war nur, dass ich mich gut fühlte, richtig gut! Sein Schmerz war Balsam für meine Seele und ich spie in den Hörer: „Gib es zu: Das war es, was du insgeheim wolltest. Zeit! Für dich. Für deine Karriere.“
„Das kannst du nicht wirklich glauben!“
Ich würdigte ihn keines Wortes. Sein abgehacktes Luftholen klang angenehm in meinen Ohren.
„Ich begreife es nicht“, flüsterte Leander. Seine Stimme war zittrig. Ich hörte ein gequältes Stöhnen, bevor er auflegte. Und ich genoss es!
Von da an entzog ich mich meinem Mann mehr und mehr. Es war, als triebe mich ein tosender Sturm in einem Boot auf das offene Meer hinaus.
Leander stand verlassen am Ufer, stumm und hilflos. Seine Arme hingen am Körper herab. Er wurde kleiner und kleiner.
Schon bald würde er nicht mehr zu sehen sein.
Nachdem ich Krümel verloren hatte, war alles anders. Ich war anders. Ich hatte nicht nur mein Baby, sondern einen Teil meines Körpers, ein Stück meines Selbst, verloren. In meinem Inneren gab es kein Leben mehr. Stattdessen wuchs dort eine gähnende Leere heran, abgrundtief und düster wie der schwärzeste Ort auf Erden, die mir alle Kraft nahm. Meine Existenz war eine einzige Qual und der Schock über das, was passiert war, saß tief.
Meine Freude, all meine Erwartungen waren tot und unter Verzweiflung, Trauer und Schuldgefühlen begraben.
Dazu kam eine glühende Wut. Auf Leander, den ich gebeten hatte, bei mir zu bleiben, und der trotzdem gefahren und auch nicht heimgekommen war, als ich ihn am dringendsten brauchte.
Ich wünschte, er müsste nur annähernd das fühlen, was ich fühlte. Verlust. Schmerzen. So starke körperliche und seelische Schmerzen, dass man nur noch schreien will.
Aber ich schrie nicht.
Ich nicht.
*
Es ist eng in meinem Schrank, seit Leander sich neben mich gedrückt hat. Und ich spüre eine starke Hitze, die nichts mit dem Sommerwetter zu tun hat.
„Es ist alles meine Schuld“, sagt Leander düster. „Allein meine!“ Er beißt die Zähne zusammen. „Ich hätte sofort heimkommen sollen, egal was du über die Abtreibung gesagt hast. Ich hätte spüren müssen, dass an deiner Geschichte, dass etwas mit dir nicht stimmt! Nein - ich hätte erst gar nicht fahren dürfen!“
„Du hast wohl kaum mehr Fehler begangen als ich.“
Leander öffnet sprachlos den Mund, schließt ihn wieder, schüttelt den Kopf. Schließlich zieht er mich noch enger an sich. Der Schrank knarrt und ächzt. Wir achten nicht darauf und halten uns aneinander fest.
„Aber ich bin derjenige, der es einfacher gehabt hat.“
„Warum?“, frage ich und ziehe mich zurück, um ihn besser ansehen zu können.
„Weil ich unser Kind nicht in mir getragen habe.“ Er ergreift meine Hände und fixiert mich. „Weil ich nicht durchgemacht habe, was du erleiden musstest.“
Vor meinen Augen verschwimmt alles.
„Ach Gott, Leander.“
Ich senke die Lider vor seinen Blicken. Es gibt eine lange Pause, bevor ich fortfahre. Und meine Zunge ist schwer wie Blei bei dem, was ich ihm nun zu erzählen habe.
Kapitel 34
Der 20. Februar war ein Mittwoch - neun Tage nach Krümels Tod.
Nach außen hin fuhr ich fort, mein Leben zu leben, als wäre nicht das Geringste geschehen.
Frau Hischer gegenüber verlor ich über mein ganz persönliches Drama kein Wort, wie ich auch schon zuvor über meine Schwangerschaft geschwiegen hatte. Aber
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