Meine Spur löscht der Fluß
Bräuchen und Gepflogenheiten. Bei den Yana kommt übrigens noch eines dazu, etwas äußerst Interessantes, das es auf der ganzen Welt, soweit uns das bis heute bekannt ist, höchstens noch ein- oder zweimal gibt.«
»Einen Moment, Professor, ich muß mir nur schnell meinen Bleistift spitzen.« Der Redakteur holte sein Taschenmesser aus der Hosentasche und spitzte seinen Bleistift fein säuberlich in einen Aschenbecher, den ihm Waterman zugeschoben hatte.
»Und was ist nun das Interessante?«
»Frauen und Männer haben eine verschiedene Sprache.«
»Ja, aber wie verständigen sie sich dann untereinander?«
»Das klappt, weil jeder die Sprache des anderen versteht. Bei den Männern ergibt sich das sowieso von selbst, die lernen zunächst die Frauensprache, ungefähr die ersten neun oder zehn Jahre. In der Vorpubertät ziehen die Jungen ins Männerhaus, das war, immer auf der Stufe ihrer Kultur betrachtet, so ein Mittelding zwischen Klub und religiösem Zentrum. Hier lernten die Jungen die Männersprache. Sie wurden ab diesem Alter von Älteren, war es nun der Vater, der Onkel oder ein älterer Bruder, auf deren Erkundungsgängen oder Jagdstreifzügen mitgenommen. Sie wurden so trainiert, daß sie jeden Tag eine größere Strecke zu bewältigen hatten. Und alles, was die Jungen zu sehen bekamen, wurde nun nicht mehr in der Frauen-, sondern in der Männersprache bezeichnet.«
»Und worin liegt nun der Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Sprache, Professor Waterman?«
»Die männliche Form ist etwas länger, man könnte auch sagen schwieriger als die weibliche. Ein besonderes Charakteristikum der Männersprache ist die Hinzufügung einer eigenen Schlußsilbe zu der Grundform. Wir schließen daraus, daß die weibliche Sprache, die einfacher ist, auch kindlicher ist, um nicht zu sagen, infantil.« Waterman redete sich warm. »So ist die männliche Form des Wortes Person >yana<, wobei die erste Silbe scharf betont wird. Im Frauendialekt hingegen wird das nur ein >yah<, eine einzige Silbe, aber das h am Schluß ist nicht stumm, es ist ein stimmhaftes h, es wird gewissermaßen gehaucht. Nehmen wir das Wort für den Grizzlibären. In der männlichen Form ist es ein zweisilbiges Wort >t’en’na<. Die Silben werden getrennt durch einen festen Stimmeinsatz, einen Knacklaut. Weiblich heißt der Grizzlibär >t’et<. Oder, ein einfacher Satz: >Schau mich an< heißt männlich >diwai-dja< und weiblich >diwai-tch<. Außer den Endungen sind teilweise auch ganze Wortstämme in den beiden Dialekten verschieden. >Ein Mann geht< heißt >ni<, >eine Frau geht< heißt >a<. >Ein Mann tanzt< heißt >buribu<, >eine Frau tanzt< heißt >djari-dja<.«
Hier erst merkte Waterman, daß andere Gäste begannen, auf ihn aufmerksam zu werden. Eine ältere Dame am rechten Nebentisch hob ihr Lorgnon und glotzte ihn unverschämt an.
»Ich glaube, es ist besser, wenn wir gehen«, schlug er vor. »Ich muß auch zu meinem Wilden, ich bin überzeugt, er wartet auf mich.«
»Ich begleite Sie, wenn ich darf, Professor.«
»Interessiert Sie das alles wirklich, junger Mann?«
»Es ist mein Beruf, neugierig zu sein, Professor.«
Im Gehen dozierte Waterman weiter. »Einen Unterschied, müssen Sie wissen, gab es noch in der Aussprache. Männer sprachen untereinander betont und volltönend, wenn sie aber mit Frauen sprachen, benutzten sie eine gewissermaßen gestutzte oder gebremste Aussprache, könnte man sagen. Eine weniger sorgfältige. Das war aber eine besondere Form der Höflichkeit, ein Entgegenkommen zum Dialekt der Frauen hin. Wir nehmen an, daß die verschiedenen Sprachen auch für die Aufrechterhaltung moralischer Grundwerte eine große Rolle spielten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, daß sich Bruder und Schwester in der zweiten Person Mehrzahl ansprachen. Dies läßt den Schluß zu, daß man eine instinktive Furcht vor zu enger Bindung zwischen Bruder und Schwester hatte. Es ist eine unserer Überheblichkeiten, daß wir diese Leute unkultiviert nennen. In Wahrheit sind wir es. Nehmen Sie nur das Kauderwelsch, das hier landauf, landab von zugewanderten Weißen gesprochen wird. Die Yana hingegen hatten ein sehr ausgeprägtes Gefühl dafür, daß sie sich in einer ganz bestimmten Lage so und nicht anders zu verhalten hatten, daß sie in einer ganz bestimmten Situation so und nicht anders sprechen durften. Schlampigkeit in der Sprache, immer ein Zeichen kulturellen Niedergangs, wie auch Schlampigkeit im Verhalten anderen
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