Meine Wut ist jung
bewegten Geschichte und der unseres Landes gelernt.
Wer wie er die Anfänge unserer Republik als junger Mensch miterlebt und sehr bald auch mitgestaltet hat, weiß, was auf dem Spiel steht. Das Grundgesetz und die damit verbundenen Wege in eine freie Bürgergesellschaft sind für ihn Chance und Verpflichtung zugleich. Immer wieder wird deutlich, dass es ihm ein Anliegen ist, dies im Bewusstsein zu halten. Dafür lohnt es sich zu kämpfen. Gerhart Baum, der in diesem Jahr 80 Jahre alt wird, ist ein Mann mit großer Ausstrahlung und einem beneidenswerten analytischen Verstand. Wer ihn ruhig sprechen und lächeln sieht, spürt genau, was er meint mit dem Satz: »Meine Wut ist jung.«
Bei allem kritischen Diskurs über die wechselvolle Geschichte seiner Partei, über die Verpflichtung eines verantwortungsvollen Staatsbürgers oder das mit wacher Distanz zu verfolgende Handeln von Regierung und Verwaltung nimmt er auch mit dem Herzen Anteil an all diesen Themen. Immer wieder hatte ich nach unseren Gesprächen das Gefühl, es ist eine wunderbare Erfahrung mit jemandem zu sprechen, der Mut machen kann. Er hat die Fähigkeit, seine Zuhörer, seine Leser dafür zu begeistern, dass man seinen Überzeugungen treu und ein Leben lang ein politisch denkender Mensch bleiben sollte. Ich jedenfalls habe durch unsere Gespräche viel dazugelernt und bin mir sicher, das war nur der Anfang einer Reihe anregender Begegnungen, die uns noch oft zusammenführen wird.
Ich danke Renate Liesmann-Baum, Monika Lüke und Wolfgang Weismantel für ihre Unterstützung.
Berlin, im Oktober 2012
Matthias Franck
»Wir wollten, dass die Barbarei der Nazis sich niemals mehr wiederholt«
Kindheit, Jugend und der Weg in die FDP
Was ist Ihre erste, prägende Erinnerung als Kind?
Auf den Fotos meiner Kindheit sehe ich mich geschniegelt und gebügelt neben meiner Mutter, einer sehr schönen, attraktiven Frau. Wir leben mit meinem Vater und meinen beiden jüngeren Geschwistern in Dresden und reisen gerne ins Erzgebirge, nach Bad Elster oder an die Ostsee. Doch als ich neun Jahre alt bin, verändert ein Ereignis mein Leben und es wird mir nie mehr aus dem Kopf gehen: die Abreise meines Vaters an die Front.
Er war Rechtsanwalt in Dresden und hatte sich geweigert, in die Kriegsgerichtsbarkeit zu gehen. Daraufhin wurde er eingezogen und als Schütze Baum am Hauptbahnhof in Dresden verladen. Meine Mutter, meine Geschwister und ich haben ihn dort verabschiedet. Das sehe ich heute noch vor mir, wenn ich in Dresden ankomme. Schütze Baum - feldgrau eingekleidet, mit Gewehr, Gasmaske und Gepäck, so ging er von uns. Abgesehen von einigen Urlaubstagen sollte es ein Abschied für immer werden. Ich ahnte nicht, was ihn erwartete. Ich wusste nichts von den Grausamkeiten des Krieges. Aber ich spürte, dass Schlimmes bevorstand. Vater wirkte todtraurig und ich hatte ihn von diesem Moment an als Vater verloren. Das ist meine Erinnerung.
Was bekamen Sie als kleiner Junge vom Krieg und dem Leben im NS-Staat mit?
Vom Krieg selbst haben wir in Dresden nicht viel gespürt. Bombensplitter waren eine Rarität. Wir sammelten sie wie Preziosen und legten sie in Watte gepackt in irgendein Döschen. Bis Februar 1945 blieb die Stadt ja weitgehend verschont. Doch es war keine heile Welt. Wir wussten, dass Krieg war. Auf Landkarten markierten wir Kinder den Frontverlauf mit Wollfäden und Stecknadeln - erst den Vormarsch und dann den Rückzug. Auch erinnere ich mich an Menschen, die einen Judenstern trugen. Zum Beispiel sehe ich noch ein älteres Ehepaar in Dresden im Park auf einer Bank. Viele Jahre später - bei der Lektüre der Tagebücher von Victor Klemperer - erinnerte ich mich an dieses Bild. Bei Gesprächen im Elternhaus war in dunklen Andeutungen von »Lagern« die Rede, in die Freunde der Familie gebracht worden waren. Bei einem Besuch der Familie der Großmutter in Lodz erfuhr ich von dem dortigen Ghetto.
Gelang es Ihrer Familie, sich der NS-Gesellschaft zu entziehen, oder war das im Alltag nicht möglich?
Sich entziehen - das war natürlich nicht wirklich möglich. Schon in der Grundschule mussten wir den Lebenslauf von Hitler auswendig lernen. Später im Vitzthum’schen Gymnasium war die Indoktrination nicht so stark. Welchen Druck meine Eltern auszuhalten hatten, weiß ich nicht. Die Atmosphäre in meinem Elternhaus war liberal-großbürgerlich. Um die Lebensumstände kurz zu umreißen: Mein Vater hatte eine angesehene Kanzlei am Altmarkt. Die Familie bewohnte
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