Meine Wut ist jung
Vorwort - Meine Begegnung mit Gerhart Baum
Die erste Begegnung mit Gerhart Baum und seiner Frau Renate war ganz privater Natur. Meine Frau Monika Lüke hatte ihn über ihr gemeinsames Engagement zum Thema Menschenrechte kennen- und schätzen gelernt. Wir trafen uns privat zum Abendessen und verstanden uns sofort. Sympathie und Vertrauen dieses ersten Abends sollten der Anfang anregender und immer wieder von beiden Seiten sehr genossener Begegnungen werden.
Von einem Buch war da noch lange nicht die Rede, aber der 80. Geburtstag im Oktober 2012 machte Lust auf mehr, auf eine Bilanz eines politischen Lebens, das niemals abgeschlossen war. Bald überlegten wir Themenfelder, verabredeten uns in der Baumschen Dachwohnung in der Nähe des Savignyplatzes. Die Gespräche wurden intensiver, strukturierter und mir wurde rasch klar, hier entsteht etwas ganz Besonderes. Nach zwei, drei Stunden gingen wir meistens für einen kleinen Lunch um die Ecke. Zurückgekehrt, konnte schon mal eine kleine Zigarre die Entspanntheit symbolisieren, die eine solche Begegnung immer wieder und nicht nur intellektuell zum Vergnügen machte.
Nie habe ich einen Menschen getroffen, der so intensiv am kulturellen Leben teilnimmt. Er kennt die neuesten Filme, geht oft ins Theater und in die Oper, besucht Ausstellungen und Festivals und hat nicht zuletzt durch seine Frau Renate sein kulturelles Spektrum großzügig erweitert. Seine Begeisterungsfähigkeit ist ansteckend und ich habe mich manchmal wie ein Kulturbanause gefühlt, weil ich vieles im Gegensatz zu ihm verpasst habe.
Zusätzlich zu meinen vorbereiteten Fragen hatte Gerhart Baum immer wieder handgeschriebene Zettel dabei, die Nummern trugen und mit Ergänzungen, Vertiefungen, Zitaten oder Fakten versehen waren, die auf keinen Fall fehlen durften. Immerhin waren wir unterwegs durch viele Jahrzehnte Nachkriegsgeschichte bis in unsere Tage. Es gab kein einziges Treffen, wo wir das Band nicht anhalten mussten, weil Journalisten ein Interview führen wollten, nach einem Statement fragten oder ihn in eine Talkshow einluden. Mir wurde jetzt erst richtig klar: Gerhart Baum ist gefragt. Aber er mischt sich auch ungefragt ein. Mit Entsetzen verfolgte er den Absturz seiner Partei, die kaum noch einen wie ihn in seinen Reihen hat. Sozialliberale und linksliberale Ideen sind in einer Steuersenkungspartei nicht gefragt. Doch Gerhart Baum hat keine Lust auf die Rolle des passiven Zuschauers. Er meldet sich per Leserbrief, er schreibt Kommentare. Mit seiner Freundin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und auch Jüngeren in seiner Partei pflegt er einen regen Gedankenaustausch. Mit Hans-Dietrich Genscher telefoniert er fast täglich. Gerhart Baum bietet als kritischen Beitrag seine Einsichten an, ermutigt, mahnt zur Rückkehr liberaler Werte, unterdrückt nicht seinen Zorn und spricht dabei nicht wie ein Großvater, sondern eher wie Kassandra. Es erfüllt ihn mit Genugtuung, dass seine Rolle in und für die Partei wieder stärker wahrgenommen wird.
Baum ist Baum. Er hat sich nie von dem Glauben verabschiedet, dass Politik etwas verändern kann. Dass man nicht schweigen darf, denn wer schweigt, kann sich auch schuldig machen. Politische Leerformeln sind nicht seine Sache. Immer wieder fragt er, ob man das nicht besser und zugespitzter, mutiger formulieren kann. Mit Respekt erkenne ich bei jeder Begegnung: Er hat sich nicht verbiegen lassen. Er weiß, auf welcher Seite er steht.
Gerhart Baum verkörpert mehr als ein halbes Jahrhundert Zeitgeschichte. Wer ihm gegenübersitzt, spürt rasch: Hier spricht einer, der weiß, was er sagt. Einer, der was zu sagen hat, der noch immer gefragt wird. Gerhart Baum gehört zu denen, deren Stimme zählt, auch wenn sie sich längst als Privatperson und kritische Zeitgenossen zu Wort melden. Was in diesem Land und weit darüber hinaus politisch entschieden wird, was gesellschaftlich jeden Einzelnen von uns betrifft, bewegt ihn genauso wie in den Jahren seiner aktiven Zeit in Partei und Regierung. Für die Grundrechte einzutreten, eine menschliche Gesellschaft mit aller Kraft zu ermöglichen und zu verteidigen, ist für Gerhart Baum noch immer erste Bürgerpflicht. Hier kennt er, der so differenziert zu argumentieren weiß, keine Kompromisse. Oder besser gesagt, hier entlarvt er alle noch so raffinierten Ausflüchte. Diese Überzeugung vermittelt er jedem, der mit ihm zu tun hat. Und je länger man mit ihm spricht, umso deutlicher wird: Hier hat jemand aus seiner eigenen
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