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Meine Wut rettet mich

Meine Wut rettet mich

Titel: Meine Wut rettet mich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlis Prinzing
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»Unterbestimmern«, sondern um eine Hierarchie von Aufgaben, über die man sich kollegial verständigt. In der Praxis muss sich das Bischofskollegium immer in irgendeiner Form einigen, jedenfalls ist das mein Leitungsverständnis. Bei den derzeit handelnden Personen befürchte ich keine harten Auseinandersetzungen oder Machtverluste. Wir werden die neue Nordkirche gemeinsam gestalten, aber eine Aufgabenhierarchie haben.
    Das muss erst wachsen.
    Sicher, doch wir haben schon Erfahrungen zum Beispiel auf der Propstebene gemacht. Früher gab es übergeordnet einen Propst, der den Überblick über alle Themen brauchte, heute führen beispielsweise im Kirchenkreis Hamburg-Ost sieben Pröpste das eine Amt aus. Das Prinzip der Delegation ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Und das bedeutet: Ich gebe mit Vertrauen ab und nicht unter dem Eindruck des Verlusts. Bei uns in der Kirche setzt sich damit ein neues Leitungsbild durch. Da sind wir, finde ich, manchen voraus, auch, weil wir immer eine vergleichsweise flache Hierarchie hatten und sehen mussten, wie wir im konsensualen Gespräch vorankamen.
    Sie haben durch Ihre vielfältigen Aufgaben auch viel Ungerechtigkeit gesehen. Wie viel Wut steckt in Ihnen?
    Engagement – ja. Aber Wut? Ich spüre nicht viel Aggression in mir. Das hängt vielleicht damit zusammen, dass ich mit Abgründen zwar auch konfrontiert war und bin, aber nicht dauernd. Ich kenne den Begriff Wut noch aus der feministischen Arbeit, da bezeichnete er eine Kategorie des Tabubruchs – Wut im Bauch. Wut gegen die alltägliche Unterdrückung … Das war eine Phase, in der man aufwacht, auch indem man wütend ist über manche Verhältnisse in der Gesellschaft. Aber diese Zeit liegt hinter mir. Meine tragende Emotion im Moment ist eine Mischung aus Engagement und Zärtlichkeit – das Gefühl eines zarten, genauen und behutsamen Hinguckens.
    Sie beschreiben sich als die Versöhnliche.
    Ja, das trifft am ehesten mein Gefühl.
    Die Frage nach der Wut ist nicht neu.
    Ich wurde vor allem nach der Bischofswahl immer wieder gefragt, wann ich mal nicht so verständnisvoll sei, so »gnadenlos freundlich«, und worüber ich mich ärgere. Mir fiel nichts ein. Irgendwann half mir jemand, gab mir ein Stichwort und sagte: »Oha, ich weiß noch, wo du so sauer warst, und da hast du fast die Teetasse an die Wand geballert.« Da erinnerte ich mich auch wieder, doch entscheidend ist: Ich hatte das völlig vergessen. Ich glaube, genau das ist für mich typisch.
    Das heißt, es gibt diese Wut?
    Offensichtlich. Sie hat dann sicherlich ihre Wirkung gehabt, Wut ist eine hohe Energie, übrigens auch eine positive. Aber ich erinnere mich nicht mehr dran.
    Heißt das, Sie investieren Wut in Handlungsenergie: Der Ärger verraucht, indem Sie einfach energisch und aktiv anpacken und etwas verändern?
    Irgendwie so, ganz pragmatisch. Ich halte mich nicht in der Wut auf. Aus der Wut muss Handlung werden. Und wenn die Wutenergie auf diese Weise investiert ist, dann behafte ich auch die Personen, die da meine Wut auf sich gezogen haben, ganz ehrlich nicht mehr damit. Ich kann das dann gut sein lassen. Ich kann mich gar nicht erinnern, dass ich nachtragend gewesen bin. Man ist immer mal eine Zeit lang verletzt oder gekränkt oder wütend auf jemanden. Dass das aber länger nachhallt oder nachhaltig wirkt, kenne ich an mir nicht.
    „ Ich nenne das »Gotteserschütterung«. Ich sage mir: Das darf jetzt nicht sein. Das darf auch nicht so weitergehen. ”
    Von Wut auffressen lassen Sie sich also nicht. Und erschüttern?
    O ja, und das ist eine grundgute Erschütterung. Ich nenne das manchmal »Gotteserschütterung«. Ich sage mir: »Das darf jetzt nicht sein. Das darf auch nicht so weitergehen.« Diese Art von Erschütterung hat auch die Emotion Wut in sich, aber oft auch die Emotion Trauer.
    Und Aufbruch? Aufbruch zu handeln, zuzupacken?
    Genau, diese Energie habe ich. Die fehlte mir nie. Mein Problem war eher, dass ich zu aktivistisch war. Ich habe in den letzten Jahren gelernt, dass es besser sein kann, die Dinge zunächst mit genügend Zeit und gründlich zu durchdenken. Diese Mischung aus Kraft und Reflexion – ich spüre das genau – entwickelte sich auch in meinem Leitungsamt als Pröpstin und Hauptpastorin. In einer Leitungsrolle, in der man für viele gleichzeitig mitdenken muss, geht das gar nicht mehr anders.
    Ein großer Vorteil einer Führungsposition ist, dass man den Überblick hat über die Handlungsmöglichkeiten und dazu

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