Meine Wut rettet mich
verleihen können.
Dann würde zur Schuld also eher die Vergebung passen und ebenso die Vorstellung, dass es eine Gnade ist, diese Vergebung zu erreichen.
Ja.
Wie passt hierzu die Barmherzigkeit?
Sie ist die Grundlage unseres christlichen Ethos und resultiert daraus, gnädig beschenkt zu sein. Es geht gar nicht anders. Wenn ich weiß, dass mein Leben ein Gnadengeschenk ist, nehme ich das automatisch auch für die anderen an. Das heißt, deren Leben ist genauso zu schützen, es ist nicht zur Zerstörung freigegeben. »Ich schaue die Welt barmherzig an«, bedeutet, sie mit dem Herzen zu sehen und mit Erbarmen in dem Moment, wo die Würde eines Menschen und damit dieser selbst in Jammer gerät.
Barmherzigkeit wird so zur Voraussetzung für Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft, also für die Nächstenliebe.
Den Begriff der Nächstenliebe halte ich für einen der wirkkräftigsten. Er enthält die Gegenseitigkeit, nicht nur interpersonell oder intersubjektiv, sondern auch als ein Geschehen zwischen Gott und mir.
Schuld hängt mit Fehlbarkeit zusammen. Ein Beispiel aus Ihrem Sprengel betrifft die Reaktionen auf Fälle sexualisierter Gewalt in Ihrer Institution. Offenkundig wurde dies erst Anfang 2010, ausgelöst letztlich durch Klaus Mertes, damals Leiter des Jesuitengymnasiums Canisiuskolleg in Berlin. Er löste eine Welle der Aufdeckung sexuellen und physischen Missbrauchs junger Menschen aus. Was leiten Sie aus dieser sichtbar gewordenen Fehlbarkeit ab, die in der Kirche genauso möglich ist wie anderswo?
Erstens: Unsere Schuld als Institution besteht. Denn Menschen in der Kirche haben Tätern nicht Einhalt geboten oder ihnen durch Verschweigen letztlich in die Hände gespielt. Wir müssen dies den Opfern sagen und ebenso, dass wir hinhören wollen. Genau hinhören, welche Kränkung sie erlitten haben, und zwar ohne zu banalisieren, zu rechtfertigen oder zu entschärfen. Die zweite Sache ist, dass man da nicht stehen bleiben darf. Wir müssen lernen – aus der Schuld, vielleicht auch aus dem Unversöhnlichen, das manche Opfer und Betroffene der Kirche nach wie vor entgegenbringen. Heißt: Wir müssen uns als Kirche genau anschauen, wie es so weit kommen konnte, dass wir ungewollt sexualisierte Gewalt haben geschehen lassen. Deshalb ist es so wichtig, für die Bedrängnisse der Betroffenen ein offenes Ohr zu haben. Wir müssen ergründen, wie sexualisierte Gewalt in einer Gemeinde jahrzehntelang geschehen konnte, und daraus ableiten, wie wir Jugendliche künftig besser davor schützen können. Ambivalenz entsteht, weil man Zuneigung und Zuwendung braucht, um das verständlich zu machen. Vertrauen und Zugewandtheit haben aber immer mit Nähe zu tun, diese möchte man den Menschen ja auch zeigen. Wenn nun jede Zuwendung unter dem Generalverdacht steht, sie sei auch eine missbräuchliche oder sexualisiert, dann geraten wir in eine große Bredouille.
Ihre Vorgängerin Maria Jepsen geriet ins Kreuzfeuer der Kritik, weil sie Warnungen überhört haben soll, und trat deshalb zurück. Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus für Ihr eigenes Handeln?
Ich halte es für eine Tragik, dass ausgerechnet sie, die sich an anderer Stelle dezidiert für Gewaltopfer eingesetzt hat, glaubte, hier ihre Glaubwürdigkeit verloren zu haben. Auch die Kirchenleitung hat sich im Rahmen des Disziplinarrechtes sorgsam gekümmert. Es wird häufig so dargestellt, als sei nichts gemacht, nichts geredet und keiner aufgeklärt worden. Doch das stimmt nicht. Das Dilemma besteht darin, dass das Disziplinarrecht verbietet, sich zu laufenden Verfahren zu äußern. Gerade die protestantische Kirche wollte und will eben nicht, dass man hier Dinge verdeckt, sondern befasst sich sehr intensiv mit dem Thema, allerdings im nicht-öffentlichen Raum. Denn es geht um zutiefst verletzte Menschen, die geschützt werden müssen.
Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus diesen Erfahrungen? Werden Sie rascher handeln? Gründlicher?
Ich will vor allem, wie bisher schon geschehen, sorgfältig vorgehen. Bei diesem Thema besteht das Risiko, in eine öffentliche Debatte zu geraten, die plakativ wird und nicht differenziert genug ist, also keinem gerecht wird. Die öffentliche Meinung hat sich in den letzten beiden Jahren insofern in gutem Sinne geändert, als Betroffene nicht mehr stigmatisiert werden. Ein differenziertes, journalistisches Ethos half auch aufzuarbeiten. Man ließ Missbrauchsopfer öffentlich zu Wort kommen und durchbrach die Täterstrategie;
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