Meister der Stimmen: Roman (German Edition)
Steinwänden hindurchschob. Besonders schlimm wurde es, als der zweite Soldat die Tür hinter sich schloss und den Gang damit in Dunkelheit tauchte. Ein paar Schritte später tauchten sie hinter einem weiteren großen Wandteppich wieder auf. Der Soldat schob den schweren Stoff beiseite, und der König stellte erstaunt fest, dass sie sich in seinem privaten Salon befanden.
»Warum hat mir niemand etwas davon gesagt?«, fragte er verärgert und beobachtete, wie der zweite Soldat den Wandbehang wieder zurechtrückte. »Das wird unglaublich nützlich sein, wenn ich das nächste Mal aus einer Audienz verschwinden will.«
»Hier hinüber, Sir«, sagte der kleine Soldat und zeigte auf den breiten Balkon, der über den Garten hinaussah. Der König verstand nicht ganz, wieso ein Balkon sicherer sein sollte als der Thronsaal, aber der Wachmann schien zu wissen, was er tat, also folgte der König ihm ruhig. Vielleicht gab es dort ja einen weiteren Geheimgang. Der König runzelte die Stirn und dachte an die vielen Gelegenheiten, bei denen er sich entschieden hatte, lieber jagen zu gehen, als sich vom Baumeister die Führung durch die Burg geben zu lassen, auf die der Mann immer so drängte. Na ja, dachte der König, wenn der Baumeister mehr Wert auf Geheimgänge gelegt hätte als auf die Erhabenheit von Schwebbögen, wäre er sicherlich bereitwilliger mitgekommen.
Der Balkon schloss sich in einem großen Halbkreis aus fahlgoldenem Marmor an den Salon an. Seine Mutter hatte ihn bauen lassen, um die Vögel genauer betrachten zu können, und das Geländer berührte die belaubten Äste der Linden. Der König wollte gerade kommentieren, wie friedlich es hier im Gegensatz zu dem Irrsinn im Thronsaal war, doch der kleinere der beiden Soldaten kam ihm zuvor.
»Es tut mir wirklich leid.«
Der König sah ihn verwirrt an. »Was tut dir l-« Die Frage wurde beantwortet, als sich ein heftiger Schmerz in seinem Hinterkopf ausbreitete. Die Bäume und der Balkon verschwammen, und dann lag er auch schon auf dem Boden, ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen war.
»Musstest du ihn so fest schlagen?« Die Stimme des Soldaten schwebte über ihm.
»Ja«, antwortete eine Stimme, die er noch nicht gehört hatte und die sein armes, schmerzendes Hirn dem großen Soldaten zuwies, der bisher noch nicht gesprochen hatte. »Zumindest wenn du willst, dass er still ist.«
Der kleinere Soldat nahm seinen Helm ab und enthüllte damit ein junges Gesicht unter dunklen, zotteligen Haaren. »Wenn du meinst«, sagte er und schob sich den Helm unter den Arm.
Dann ging der kleinere Soldat zum Rand des Balkons, wo die Bäume am dichtesten waren. Bunte Punkte tanzten vor den Augen des Königs, doch was als Nächstes geschah, sah er ganz deutlich, da war er sich sicher. Einer der Bäume bewegte sich, um dem Soldaten entgegenzukommen. Der König blinzelte, aber der Baum bewegte sich immer noch. Er lehnte sich so weit vor, wie es ihm möglich war, und streckte einen dicken Ast aus, der als kleine Stufe zum Geländer diente. Der König war so erstaunt, dass er kaum fühlte, wie der größere Soldat ihn wie einen Mehlsack über die Schulter warf. Dann waren sie auch schon auf dem Ast, und der Baum beugte sich wieder, um sie sanft auf dem Boden abzusetzen.
»Danke«, sagte der kleinere Soldat, als sie aufs Gras traten.
Und obwohl er schreckliches Ohrensausen hatte, hätte der König schwören können, dass er die Blätter flüstern hörte: »Jederzeit, Eli.«
Dieser Gedanke war zu viel für ihn, und er wurde endgültig bewusstlos.
Kapitel 2
D er Geisterhund erschien ohne Vorwarnung vor den Toren der königlichen Stadt Allaze. Im einen Moment standen die Wärter neben dem Torhaus, spielten Teufelsschenkel und spekulierten darüber, was wohl der Lärm im Palast zu bedeuten hatte, im nächsten lagen sie auf dem Rücken und starrten ein Tier an, das es nur in Märchen gab. Und so wie es ihnen die Zähne zeigte, wünschten sich die Wachen inständig, es wäre dort geblieben. Es war gebaut wie ein Windhund und doppelt so groß wie ein Pferd, deshalb musste es den Kopf ein gutes Stück senken, um sie genauer zu betrachten. In den orangefarbenen Augen, von denen jedes einzelne so groß war wie ein Teller, funkelte Belustigung, aber vielleicht war es auch Hunger. Doch am beängstigendsten waren die weißen Muster auf dem Fell des Tieres, die sich bewegten wie Wolken im Wind und damit über den messerscharfen Zähnen schreckliche, sich ständig wandelnde Formen
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