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Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Titel: Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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Gewitter.
    »Ich wollte schon immer einmal durch ein Gewitter fliegen!« rief Meister Li glücklich.
    »Herrlich!« jubelten Geizhals Shen und ich wie aus einem Munde. Es war wirklich etwas Besonderes und ein großartiges Erlebnis. Wir waren eigentlich enttäuscht, als das Gewitter sich schließlich verzog und Mond und Sterne am Himmel erschienen. Der Wind pfiff uns um die Ohren. Tief unter uns schimmerte ein Fluß wie ein silbernes Band. Die Bambuslibelle flog unbeirrt weiter und zog eine leuchtende Rauchfahne hinter sich her, während wir sanft schaukelnd über den nachtblauen Himmel Chinas trieben: Ein winziger Funken, der unter dem Glanz einer Million Billionen Trillionen Sterne leuchtete. Geizhals Shen schlief ein. Meister Li folgte seinem Beispiel, und ich flog durch die Nacht, blickte zu den Sternen empor und auf die mondhelle Erde tief unter mir. Das Gefühl zu fliegen unterschied sich sehr von dem, was ich aus meinen Träumen kannte. Um die Wahrheit zu sagen, ich zog das Fliegen im Traum bei weitem vor. Im Traum schwebte ich wie ein Vogel, glitt im Wind dahin wie in der Strömung eines Flusses und genoß die beinahe grenzenlose Freiheit. Jetzt saß ich einfach in einem Korb unter sausenden Flügeln, und insgeheim tadelte ich mich, weil ich zu undankbar war, um ein Erlebnis richtig zu würdigen, das eigentlich an ein Wunder grenzte. Meister Li tadelte sich ebenfalls, wie ich merkte, als er anfing, im Schlaf zu reden - allerdings aus einem anderen Grund. »Dummkopf«, murmelte er, »blind wie eine Fledermaus. Denk doch nach.« Er bewegte sich unruhig hin und her und kratzte sich an der Nase. »Warum nicht auf der Insel... warum nicht auf der anderen Seite der Brücke?« murmelte er ärgerlich. »Albern! Unverständlich!«
    Er schwieg, und ich dachte, wenn er von Der Hand, die Niemand Sieht, träumt, hat er guten Grund, es unverständlich zu finden. Wenn man annahm, daß die Hand den Schatz des Herzogs bewachte, wie die Gezeiten den anderen bewacht hatten, warum hatte das Ungeheuer dann nicht still und unsichtbar auf der Insel am anderen Ende der Brücke gelauert? Jeder, der sich dem Schatz näherte, hätte sich einer hungrigen Spinne als Frühstück im Bett serviert. »Kinder«, murmelte Meister Li, der sich unruhig hin und her warf. »Spiele... dumm oder kindlich? Ein kleiner Junge?« Er seufzte, sein Atem ging ruhiger, und dann hörte ich nur noch lautes Schnarchen. Auch Geizhals Shen träumte. Eine Träne rann ihm über die krumme Nase. Er gab leise Laute von sich, und ich beugte mich über ihn.
    »Ah Chen«, flüsterte er, »dein Vater ist da.«
    Mehr sagte er nicht, und schließlich schlief ich ebenfalls ein. Beim Erwachen stellte ich fest, daß wir durch rosa und orange Wolken flogen, die blaß am türkisfarbenen Himmel hingen, und die Morgensonne beschien Berggipfel, die überall um uns herum aufragten. Li Kao und Geizhals Shen manövrierten die Bambuslibelle mit Hilfe ihrer Jacken durch einen engen Einschnitt zwischen den Bergen. Märchenhafte Bäume klammerten sich kühn an das Gestein und fingen mit ihren ausgestreckten Ästen Wolkenfetzen ein, um sie zu Traumgespinsten zu verweben wie die Landschaften von Mei Fei. Ich hielt gähnend meine Jacke ausgebreitet hinter mir in die Luft. Wir schwebten so dicht an einem hohen gezackten Gipfel vorüber, daß ich die Jacke mit einer Hand losließ und eine Handvoll Schnee in den Korb holte. Er schmeckte köstlich. Dann lag der Paß hinter uns, und wir flogen über ein wunderschönes grünes Tal, wo zarte Rauchfähnchen von den Feldern aufstiegen, auf denen die Bauern Unkraut verbrannten. Die Luft duftete nach feuchter Erde, nach Bäumen, Gras und Blumen.
    Gegen Mittag begannen die Röhren mit dem Feuerpulver zu knattern und zu zischen. Die Palmblattflügel kreisten langsamer und langsamer, und wir sanken in der Nähe eines kleinen Dorfes auf die Erde, das sich an das Ufer eines breiten Flusses schmiegte. Ihr könnt sicher sein, daß die Bauern im Umkreis von mehreren Meilen zusammenliefen, um einen langsam vom Himmel herabschwebenden feuerspeienden Vogel zu beobachten. Wir schaukelten über dem Dorfplatz; das Schießpulver sorgte für einen letzten Flammenstoß und eine schwarze Rauchwolke, und wir landeten sanft auf der Erde. Die Menschenmenge bestaunte mit offenem Mund drei chinesische Herren, geschmackvoll mit Lendentüchern und Geldgürteln bekleidet, die würdevoll dem Korb entstiegen und dabei Regenschirme über sich hielten.
    »Ich heiße Li, mein

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