Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
hatten.
Links neben ihr befand sich die ermordete Zofe, deren Geist uns auf der Insel erschienen war, und rechts stand ein drittes Mädchen, das die Schwester der beiden hätte sein können.
Li Kao riß eine Fackel aus ihrer Halterung und beleuchtete damit das Gemälde Stück für Stück. Das Gewand des Hausierers war mit farbigen Perlen und Lotusblüten geschmückt. Er stützte sich mit der linken Schulter auf eine Krücke und streckte den Mädchen die Hände entgegen. In der linken lagen drei winzige weiße Federn und in der rechten eine kleine Flöte und eine Kristallkugel, die beide aufs Haar denen glichen, die Li Kao am Gürtel trug, aber außerdem noch eine winzige Bronzeglocke. Es handelte sich um ein uraltes Gemälde. Aber was bedeutete es?
»Die Symbole auf dem Gewand des lahmen Hausierers stehen üblicherweise für Himmel, und in diesem Fall könnte es sich um eine Darstellung von T'ieh-kai Li, dem Vierten Unsterblichen handeln«, sagte Meister Li nachdenklich. »Aber zwei Dinge sind falsch, und eins davon schließt diese Interpretation aus. Er müßte eine große Kalebasse auf dem Rücken tragen, und er dürfte sich keinesfalls auf eine Holzkrücke stützen. Schließlich bedeutet sein Name: Li mit der Eisenkrücke.«
Meister Li studierte das Gemälde noch einmal und ließ dabei die Augen ganz dicht über die Oberfläche wandern. »Andererseits könnten die Symbole auf dem Gewand für das Übernatürliche stehen... und das schließt das übernatürliche Böse ein«, murmelte er. »Wir wissen, daß zwei von den Mädchen ermordet wurden, und ich wette ein Vermögen, daß auch das dritte Mädchen nicht friedlich im Bett gestorben ist. Es macht mich ganz verrückt, daß ich nicht die leiseste Spur von dem finde, was dazugehören sollte.« Ich sah ihn fragend an.
»Ginseng«, erklärte er, »Ochse, aus einem rätselhaften Grund besteht eine Verbindung zwischen unserer Suche nach der Großen Wurzel und den Geistern der Zofe... ebenso zu den Kinderspielen, dem Dorf Ku-fu, dem Drachenkissen, Kinderreimen, Federn, Vögeln, die fliegen müssen, dem Herzog von Ch'in... allen Herzögen, wenn ich es mir recht überlege... und Buddha weiß, wozu noch.«
Meister Li richtete sich auf und zuckte mit den Schultern. »Falls wir es je herausfinden, wird das eine phantastische Geschichte ergeben«, seufzte er. »Wir wollen sehen, ob die Mönche uns etwas Nützliches sagen können.« Die drei Mönche in Schwarz waren verschwunden, doch der kleine rotgewandete Mönch war mehr als hilfsbereit. »Nein, es ist uns nie gelungen, die Bedeutung der Gegenstände und der Federn zu ergründen« sagte er. »Die Federn sind besonders verwirrend, denn tiefer im Höhleninnern gibt es ein anderes Wandbild, auf dem Federn abgebildet sind. Es ist so alt, daß die Farbe zum größten Teil abgeblättert ist. Aber man kann deutlich Federn und das Symbol des Sternbildes Orion erkennen. Ich habe auch keine Vorstellung davon, was das bedeuten könnte.«
Li Kaos Augen leuchteten. »Ochse, in alten Zeiten bestand das Schriftzeichen für Orion aus einem Dach, drei Balken und der Zahl drei. Es bedeutete auch Ginseng, besonders wenn das Symbol für Herz sich auf den Spitzen der Balken befand. Das würde das Herz der Großen Wurzel der Macht bedeuten«, flüsterte er. Allmählich ließ ich mich von seiner Aufregung anstecken, und wir folgten eilig dem kleinen Mönch zu einer Öffnung im Felsen, wo ein anderer Gang begann. Der Mönch nahm Fackeln aus den Haltern an der Wand und gab sie uns.
»Ihr findet das Gemälde am Ende, und dann werdet Ihr sehen, weshalb wir sicher sind, daß der Hausierer eine Gottheit ist«, sagte er. »Glücklicherweise seid Ihr in der Regenzeit gekommen, und das Wasser in der Höhle des Hausierers steigt. Bald wird es die Glockensteine erreichen. Nur der Himmel kann solche Musik hervorbringen. Die Steine befinden sich tief unter dem Gang, aber es gibt Seitenwege, durch die Ihr die Musik deutlich hören werdet.« Geizhals Shen war bei seinem ersten Besuch zur falschen Jahreszeit hier gewesen, und er äußerte sich skeptisch in Hinblick auf die Musik. Während wir den niedrigen dunklen Gang entlanggingen, gesellte sich zum Klappern unserer Sandalen das Klatschen von Wasser gegen Felsen. Es mußte tief unter uns und links von uns fließen. Dann stieg das Wasser weit genug, und wir wußten, der Mönch hatte nicht gelogen. Es war die Musik des Himmels!
Eine Steinglocke läutete. Gerade als das Echo verhallte, antwortete ihr eine
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