Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
zweite Glocke weich, sanft, lieblich und leicht verweht, als dringe der Klang durch Honig. Noch eine Glocke ertönte, diesmal höher, klarer und in völligem Einklang; und dann stimmte Glocke um Glocke ein: große Glocken, kleine Glocken, laute Glocken, sanfte Glocken, klare Glocken, verschwommene Glocken. Verzaubert gingen wir weiter, und unsere Fackeln warfen riesige Schatten an die Felswände. Ich kann die Schönheit der Musik dieser Steinglocken nicht beschreiben. Das Wasser erreichte die weichen Felsen, strömte durch die winzigen Löcher, und die Melodien von tausend silbernen Lauten, die von einer Million summender Bienen gespielt wurden, begleiteten das Läuten der Glocken. Die Harmonie der Töne verzauberte unsere Seelen. Vor uns öffnete sich ein Seitengang, der groß genug war, um hineinzugehen. Musik entströmte ihm. Wir drehten uns alle drei wie ein Mann um und gingen den Gang hinunter auf die betörende Musik zu. Tränen strömten Geizhals Shen über die Wangen. Er begann zu rennen und öffnete die Arme weit, um die Musik zu umarmen. Wir waren ihm dicht auf den Fersen. Unsere Schatten hüpften und sprangen um uns herum. Ein Stein unter dem Fuß von Geizhals Shen bewegte sich, und ich hörte ein hartes metallisches Whang...
Geizhals Shen erhob sich in die Luft und flog rückwärts in meine Arme. Ich starrte verständnislos auf den Eisenschaft eines Pfeils, der aus seiner Brust ragte.
21.
Ein Gebet für Ah Chen
Wir warfen uns auf den Boden, aber es folgten keine weiteren Pfeile. Ich hielt mein Ohr an die Brust von Geizhals Shen. Sein Herz schlug noch, aber nur schwach. »Das Gemälde ist eine Falle«, flüsterte mir Meister Li ins Ohr. »Die Akustik im Tunnel ermöglicht den Mönchen zu hören, was gesprochen wird, und als sie hörten, daß wir die Zofen erkannten und sie mit dem Herzog von Ch'in in Zusammenhang brachten, schlichen sich die drei Mönche in Schwarz davon, spannten die Armbrust und stellten die Falle.«
Vorsichtig hob er die Fackel, leuchtete die Umgebung ab, und schließlich entdeckten wir sie: In einer Halterung an der Felswand hing eine Armbrust, und sie war auf die Mitte des Gangs gerichtet. »Warum nur eine?« murmelte Meister Li. Vorsichtig griff er unter den Stein, den Geizhals Shen mit dem Fuß berührt hatte. Unter dem Boden lief eine Metallstange durch den Gang. »Ochse, siehst du diesen großen, flachen weißen Stein?« flüsterte Meister Li. »Er ragt leicht hervor, und ich vermute, wir sollen darauftreten, wenn wir um unser Leben rennen.«
Ich hob Geizhals Shen vom Boden auf und wir gingen langsam und vorsichtig um den Stein herum zurück in Richtung Hauptgang. Li Kao sammelte ein paar Steinbrocken auf und warf sie auf die weiße Platte. Beim dritten Versuch traf er sie, und mit einem ohrenbetäubenden Krachen stürzten gut fünfzig Fuß der Decke ein. Eine dicke Staubwolke und sirrende Steinsplitter flogen durch den Gang. Jeder, der sich dort aufgehalten hätte, wäre wie eine Ameise unter dem Fuß eines Elefanten zermalmt worden.
»Wir können der Akustik hier nicht trauen«, flüsterte Li Kao mir ins Ohr. »Wenn wir zurückkommen, werden sie vermutlich schon auf uns warten. Wir müssen dem Tunnel folgen und uns auf unser Glück verlassen.«
Mit der Fackel in der einen und dem Messer in der anderen Hand ging er voran. Der Gang stieg wieder an, und die wunderschöne Melodie der Glocken wurde leiser. Bald hörte man nur noch das Knistern der Fackeln und das Klappern unserer Sandalen. Geizhals Shen stöhnte. Er öffnete die Augen, doch sie glänzten fiebrig, und er schien uns nicht zu erkennen. Wir hielten an, ich setzte ihn mit dem Rücken an die Tunnelwand auf den Boden, und seine Lippen begannen sich zu bewegen.
»Seid Ihr der Priester?« fragte er Li Kao heiser. »Der Herzog von Ch'in hat mein kleines Mädchen ermordet, und die Leute sagen, es wird mir besser gehen, wenn ich ein Gebet verbrenne, und es ihr schicke. Aber ich kann nicht schreiben.«
Für Geizhals Shen hatte sich die Zeit vierzig Jahre zurückgedreht; damals hatte der Tod seiner Tochter ihn allmählich in den Wahnsinn getrieben.
»Ich bin der Priester«, erwiderte Meister Li leise. »Ich werde dein Gebet aufschreiben.«
Geizhals Shens Lippen bewegten sich lautlos, und ich ahnte, daß er sich das Gebet im stillen vorsagte. Schließlich war er soweit, und mit großer Anstrengung konzentrierte er sich auf das, was er seiner Tochter sagen wollte. Es folgt das Gebet von Geizhals Shen: »O weh,
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