Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
Kaiser und alle hohen Würdenträger versammelten sich, um einer spektakulären Hinrichtung beizuwohnen. Der jammernde Todeskandidat wurde auf den Sitz im Korb gebunden, und Chang Hen setzte die Zündschnur in Brand. Eine Flamme schoß hervor, eine zweite, dann noch eine und plötzlich verschwand alles in einer dicken schwarzen Rauchwolke. Als der Rauch sich verzog, entdeckten die verblüfften Zuschauer, daß sich das Gefährt mit wild wirbelnden Flügeln geradewegs in die Luft erhoben hatte. Eine Rauchfahne und Flammen begleiteten seinen Weg. Man hörte undeutlich die Entsetzensschreie des Verurteilten, als das Gefährt auf einen der Palasttürme zuflog. Als es den Turm rammte und mit einem gewaltigen Krachen explodierte, brach der Kaiser in Hochrufe aus, und die Zuschauer applaudierten begeistert. Man erzählte, noch nach einer Woche seien Stücke des Piloten vom Himmel gefallen... obwohl das wahrscheinlich eine Übertreibung ist. Der große Chang Hen schloß sich in seine Werkstatt ein, und einen Monat später hatte seine spektakuläre Erfindung ihre endgültige Form gefunden: die wunderbare Bambuslibelle.« Li Kao lächelte glücklich. »Die Pläne dazu habe ich in Hanlin in der Kulturwald-Akademie gesehen«, sagte er. Es herrschte Schweigen.
»Ihr könnt doch unmöglich glauben...«., flüsterte Geizhals Shen. »Direkt über uns sehe ich einen Kranz von Palmblättern, die leicht, stark und fächerförmig sind«, sagte Meister Li. »Ihr habt doch sicher nicht die Absicht...« hauchte ich kläglich. »Es gibt hier genug Bambus und auch Harz. In der Lava steckt Schwefel. Überall in China findet man natürliche Salpeterablagerungen, vermutlich auch auf dieser Insel. Es würde mich sehr überraschen, wenn ein ehemaliger Bauer wie Geizhals Shen nicht ein bißchen Holzkohle machen könnte.«
»Aber das wäre Selbstmord!« rief ich. »Wahnsinn!« schrie Geizhals Shen.
»Es besteht überhaupt keine Hoffnung, daß wir es überleben«, stimmte Meister Li zu. »Ochse, du sorgst für die Palmblätter, das Harz und den Bambus. Die Holzkohle ist Sache von Geizhals Shen. Ich werde nach Salpeter suchen und aus der Lava Schwefel gewinnen. Ich schlage vor, daß wir uns beeilen, denn jeder Augenblick bringt mich dem Tod aus Altersschwäche näher.» Eine Woche lang erschütterten Explosionen und die darauf folgenden wütenden Schreie Li Kaos die kleine Insel. Sein Bart war versengt und rauchgeschwärzt, und die Augenbrauen waren nahezu verbrannt. Seine Kleider hatten so oft Feuer gefangen, daß es aussah, als wären unzählige hungrige Motten über ihn hergefallen. Aber schließlich fand er die richtige Zusammensetzung, und die mit Schießpulver gefüllten Bambusrohre nahmen Vernunft an. Geizhals Shen und ich waren stolz auf unsere Arbeit. Den Korb hatten wir aus Schilf geflochten, und man saß sehr bequem darin. Die Palmblattflügel drehten sich munter um die Bambusstange. Das Bambusrad, an dem die Röhren befestigt wurden, befand sich gut ausbalanciert im Gleichgewicht. Obwohl uns keine Steuerung zur Verfügung stand, hofften wir, die Flugrichtung zu beeinflussen, indem wir das Gewicht verlagerten.
»Natürlich ist das Wahnsinn«, sagte ich, als ich in den Korb kletterte.
»Schwachsinn«, bestätigte Geizhals Shen, als er sich neben mich setzte.
»Wir sind völlig verrückt«, stimmte Li Kao zu, als er die Zündschnüre in Brand setzte.
Er hüpfte in den Korb, ich legte die Hand vor die Augen und wartete auf den Tod. Der Korb erzitterte, als die Röhren mit dem Schießpulver Flammen spien. Das Rad begann sich zu drehen; die Flügel kreisten und kreisten. Ich spähte durch meine Finger auf eine dicke schwarze Rauchwolke und sah, daß das Gras unter uns wie vom Wind gepeitscht wogte. »Wir steigen!» schrie ich.
»Wir fallen!« brüllte Geizhals Shen.
Wir hatten beide recht. Wir schossen plötzlich in die Luft und fielen wieder. Leider waren wir auch fünfzig Fuß nach links geraten und stürzten geradewegs auf die brodelnde Lava zu. »Zurücklehnen!« schrie Meister Li.
Wir verlagerten unser Gewicht. Die Bambuslibelle richtete sich unvermittelt gerade auf und trieb dicht über der kochendheißen Oberfläche auf die andere Seite des Grabens hinüber. Voller Entsetzen starrten wir auf die Spuren riesiger Finger, die erwartungsvoll im Salz scharrten.
Die Hand, die Niemand Sieht, erwischte uns beinahe. Ein unsichtbarer Finger riß blitzschnell einen der Palmblattflügel ab, was sich als Segen herausstellte, denn
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