Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
Vorname ist Kao, und ich habe einen kleinen Charakterfehler«, stellte Meister Li sich mit einer höfliche Verbeugung vor. »Dies ist mein geschätzter Klient, Nummer Zehn der Ochse, und dies ist Alte Großzügigkeit, früher bekannt als Geizhals Shen. Hiermit machen wir diesem reizenden Dorf die Wunderbare Bambuslibelle zum Geschenk. Baut einen Zaun darum! Verlangt Eintritt, und euer Glück ist gemacht. Nun dürft ihr uns zum nächsten Weinlokal führen, denn wir haben die Absicht, eine Woche betrunken zu bleiben.«
Geizhals Shen hätte genau das am liebsten getan, aber durch einen unvorstellbar glücklichen Zufall hatte uns die Bambuslibelle in die Nähe der Höhle Der Glocken gebracht. Die Höhle lag nur eine kurze Strecke flußabwärts. Deshalb kauften wir ein Boot, schoben es in die Strömung, und zwei Tage später deutete Geizhals Shen nach vorne. »Der Steinglockenberg«, sagte er. »Der Eingang zur Höhle der Glocken befindet sich direkt am Wasser, und wir müßten eigentlich geradewegs hineinfahren können.« Li Kao stieß mich an.
»Ochse, ich habe gehört, die Rundreise führt den Herzog am Steinglockenberg vorbei«, flüsterte er. »Wenn das Gemälde in der Höhle der Glocken so aussieht, wie Geizhals Shen es beschrieben hat, ist das Interesse des Herzogs für diesen Ort vielleicht nicht rein zufällig.« Ich erinnerte mich an seine düstere Prophezeiung und hielt ängstlich nach zweihundert Fuß langen, gepanzerten und geflügelten Wasserschlangen Ausschau, als unser kleines Boot durch den dunklen Höhleneingang glitt. Aber dann jubelte ich vor Staunen und Entzücken! Wir schienen in einen dieser wunderschönen Unterwasserpaläste aus buddhistischen Märchen gekommen zu sein. Die Sonnenstrahlen fielen durch den Höhleneingang auf samaragdenes Wasser, das wie grünes Feuer aufflammte und sein Licht auf die Felswände warf, wo Kristalle in allen Farben des Spektrums funkelten. Es war eine Regenbogenwelt. Die merkwürdigsten Felsen, die ich je gesehen hatte, tauchten aus dem Wasser auf und hingen von der Decke herunter. Sie erinnerten an Speere, jedoch auf den Kopf gestellt, so daß die dicken Schäfte in die Luft ragten. Li Kao hatte die Höhle noch nie besucht, jedoch sehr viel darüber gelesen.
»Es sind Glockensteine«, erklärte er. »Wenn das Wasser steigt, schlägt es gegen die unteren Steine, die dann wie Glocken läuten. Die Schwingungen führen dazu, daß die Steine an der Decke ebenfalls läuten. Dieses Phänomen nennt man sympathetische Resonanz. Noch tiefer im Höhleninnern gibt es andere, weichere Steine, die von winzigen Löchern durchzogen sind. Wenn das Wasser durch die Löcher fließt, ertönt eine musikalische Begleitmusik zum Klang der Glocken. Su Tung-po hat über dieses Thema eine interessante Abhandlung geschrieben.«
Wir erreichten einen Anlegesteg und banden das Boot an einem der Holzpfosten fest. Eine Steintreppe führte hinauf in die große Halle, wo ein Schrein errichtet worden war. Wir schienen die einzigen Besucher zu sein. Vier Mönche hielten sich in der Nähe des Schreins auf. Drei trugen schwarze Gewänder, der vierte ein leuchtend rotes. Der Rotgekleidete kam uns entgegen. Er war ein winziges Kerlchen mit einer hohen quäkenden Stimme.
»Buddha sei mit Euch«, begrüßte er uns mit einer tiefen Verbeugung. »Ich bin der Hüter im Tempel des Hausierers, und meine drei Mönchsbrüder gehören einem anderen Orden in der Nachbarschaft an. Im Gang zur Linken findet Ihr das heilige Gemälde der Gottheit dieser Höhle... der Höhle der Glocken. Es ist ein sehr altes und geheimnisvolles Bild. Weder meine Vorgänger noch ich konnten es deuten. Unbestreitbar ist es heilig, und ich hoffe, daß eines Tages ein Besucher kommt, der es mir erklären kann. Möget Ihr die weisen Besucher sein, auf die ich warte«, sagte er mit einer weiteren Verbeugung. »Ich hoffe, Ihr werdet mir vergeben, wenn ich Euch nicht begleite. Meine Brüder und ich verlieren über der Buchführung der Spenden allmählich den Verstand.«
Der kleine Mönch trippelte zu den anderen zurück, und wir bogen in den Gang, den er uns gezeigt hatte. An seinem Ende flackerten Fackeln, die etwas beleuchteten. Geizhals Shen wies darauf. »Das Bild, von dem ich gesprochen habe«, sagte er, während Li Kao und ich Gespenster sahen.
Keine Frage! Das Gemälde stellte einen alten Hausierer dar, der dem Betrachter den Rücken zuwendete. Er stand vor der ermordeten Zofe, deren Geist wir im Schloß des Labyrinths gesehen
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