Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meistererzählungen

Meistererzählungen

Titel: Meistererzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
Vom Netzwerk:
Er öff nete das Skizzenbuch, das kleine, sein liebstes, und suchte die letzten Blätter, die von gestern und heut, auf. Da war der Bergkegel mit den tiefen Felsen-schatten; er hatte ihn ganz nahe an ein Fratzengesicht heran modelliert, er schien zu schreien, der Berg, vor Schmerz zu klaff en. Da war der kleine Steinbrunnen, 330
    halbrund im Berghang, der gemauerte Bogen schwarz mit Schatten gefüllt, ein blühender Granat baum drüber blutig glühend. Alles nur für ihn zu lesen, nur Geheim-schrift für ihn selbst, eilige gierige Notiz des Augen blicks, rasch herangerissene Erinnerung an jeden Augen blick, in dem Natur und Herz neu und laut zusammenklan-gen. Und jetzt die größeren Farbskizzen, weiße Blätter mit leuchtenden Farbfl ächen in Wasserfarben: die rote Villa im Gehölz, feurig glühend wie ein Rubin auf grü-
    nem Sammet, und die eiserne Brücke bei Castiglia, rot auf blaugrünem Berg, der violette Damm daneben, die rosige Straße. Weiter: der Schlot der Ziegelei, rote Rakete vor kühlhellem Baum grün, blauer Wegweiser, hellvioletter Himmel mit der dicken wie gewalzten Wolke.
    Dies Blatt war gut, das konnte bleiben. Um die Stallein-fahrt war es schade, das Rotbraun vor dem stählernen Himmel war richtig, das sprach und klang; aber es war nur halb fertig, die Sonne hatte ihm aufs Blatt geschienen und wahnsinnige Augenschmerzen gemacht. Er
    hatte nachher lange das Gesicht in einem Bach gebadet.
    Nun, das Braunrot vor dem bösen metallenen Blau war da, das war gut, das war um keine kleine Tönung, um keine kleinste Schwingung gefälscht oder mißglückt.
    Ohne caput mortuum hätte man das nicht herausbekommen. Hier, auf diesem Ge biet, lagen die Geheimnisse. Die Formen der Natur, ihr Oben und Unten, ihr Dick und Dünn konnte verschoben werden, man konnte auf alle die biederen Mittel verzichten, mit de nen die Na-331
    tur nachgeahmt wird. Auch die Farben konnte man fälschen, gewiß, man konnte sie steigern, dämpfen, übersetzen, auf hundert Arten. Aber wenn man mit Farbe ein Stück Natur umdichten wollte, so kam es darauf an, daß die paar Farben genau, haargenau im gleichen Verhältnis, in der gleichen Spannung zueinander standen wie in der Natur. Hier blieb man abhängig, hier blieb man Naturalist, einstwei len, auch wenn man statt Grau Orange und statt Schwarz Krapplack nahm.
    Also, ein Tag war wiederum vertan, und der Ertrag spärlich. Das Blatt mit dem Fabrikschlot und der rot-blaue Klang auf dem andern Blatt und vielleicht die Skizze mit dem Brun nen. Wenn morgen bedeckter Himmel war, ging er nach Carabbina; dort war die Halle mit den Wäscherinnen. Vielleicht regnete es auch wieder einmal, dann blieb er zu Haus und fi ng das Bachbild in Öl an. Und jetzt zu Bett! Es war wieder ein Uhr vorbei. Im Schlafzimmer riß er das Hemd ab, goß sich Wasser über die Schultern, daß es auf dem roten Steinboden klatschte, sprang ins hohe Bett und löschte das Licht. Durchs Fenster sah der blasse Monte Salute herein, tausend mal hatte Klingsor vom Bett aus seine Formen abgelesen.
    Ein Eulenruf aus der Waldschlucht, tief und hohl, wie Schlaf, wie Vergessen.
    Er schloß die Augen und dachte an Gina, und an die Halle mit den Wäscherinnen. Gott im Himmel, so viel tausend Dinge warteten, so viel tausend Becher standen einge schenkt! Kein Ding auf der Erde, das man nicht 332
    hätte malen müssen! Keine Frau in der Welt, die man nicht hätte lieben müssen! Warum gab es Zeit? Warum immer nur dies idioti sche Nacheinander, und kein brausendes, sättigendes Zu gleich? Warum lag er jetzt wieder allein im Bett, wie ein Wit wer, wie ein Greis? Das ganze kurze Leben hindurch konnte man genießen, konnte man schaff en, aber man sang immer nur Lied um Lied, nie klang die ganze volle Symphonie mit allen hundert Stimmen und Instrumenten zugleich.
    Vor langer Zeit, im Alter von zwölf Jahren, war er Klingsor mit den zehn Leben gewesen. Es gab da bei den Knaben ein Räuberspiel, und jeder von den Räubern hatte zehn Le ben, von denen er jedesmal eines verlor, wenn er vom Verfol ger mit der Hand oder mit dem Wurfspeer berührt wurde. Mit sechs, mit drei, mit einem einzigen Leben konnte man noch davonkommen und sich befreien, erst mit dem zehnten war alles verloren. Er aber, Klingsor, hatte seinen Stolz dar ein gesetzt, sich mit allen, allen seinen zehn Leben durchzu schlagen, und es für eine Schande erklärt, wenn er mit neun, mit
    sieben davonkam. So war er als Knabe gewesen, in jener unglaublichen Zeit, wo nichts auf der

Weitere Kostenlose Bücher