Meistererzählungen
Auge auf, er fi el einem wie Blei aus der Hand, er gab keine Lust, keinen Glanz, keine Freude her. Es war seltsam, es war ihm dieser Tage schon mehrmals aufgefallen: er konnte durchaus nicht denken, an was er wollte, er hatte keine Verfügung über seine Gedanken, sie liefen wie sie wollten, und sie verweilten trotz seinem Sträuben mit Vorliebe bei Vorstellungen, die ihn quälten. Es war, als sei sein Gehirn ein Kaleidoskop, in dem der Wechsel der Bilder von einer fremden Hand geleitet wurde. Vielleicht war es nur die lange Schlafl osigkeit und Erregung, er war ja auch schon längere Zeit nervös. Jedenfalls war es häß-
lich, und wenn es nicht bald gelang, wieder etwas Ruhe und Freude zu fi nden, war es zum Verzweifeln.
Friedrich Klein tastete nach dem Revolver in seiner Man teltasche. Das war auch so ein Stück, dieser Revolver, das zu seiner neuen Ausrüstung und Rolle und Maske gehörte. Wie war es im Grunde lästig und ekelhaft, all das mit sich zu schleppen und bis in den dünnen, vergif-teten Schlaf hinein bei sich zu tragen, ein Verbrechen, gefälschte Papiere, heim lich eingenähtes Geld, den Revolver, den falschen Namen. Es schmeckte so nach Räu-bergeschichten, nach einer schlechten Romantik, und es paßte alles so gar nicht zu ihm, zu Klein, dem guten Kerl. Es war lästig und ekelhaft, und nichts von Aufatmen und Befreiung dabei, wie er es erhoff t hatte.
Mein Gott, warum hatte er eigentlich das alles auf sich ge nommen, er, ein Mann von fast vierzig Jahren, 403
als braver Be amter und stiller harmloser Bürger mit gelehrten Neigungen bekannt, Vater von lieben Kindern?
Warum? Er fühlte: ein Trieb mußte dagewesen sein, ein Zwang und Drang von ge nügender Stärke, um einen Mann wie ihn zu dem Unmögli chen zu bewegen
– und erst wenn er das wußte, wenn er die sen Zwang und Trieb kannte, wenn er wieder Ordnung in sich hatte, erst dann war etwas wie Aufatmen möglich.
Heftig setzte er sich aufrecht, drückte die Schläfen mit den Daumen und gab sich Mühe zu denken. Es ging schlecht, sein Kopf war wie von Glas, und ausgehöhlt von Aufregun gen, Ermüdung und Mangel an Schlaf.
Aber es half nichts, er mußte nachdenken. Er mußte suchen, und mußte fi nden, er mußte wieder einen Mittelpunkt in sich wissen und sich sel ber einigermaßen kennen und verstehen. Sonst war das Le ben nicht mehr zu ertragen.
Mühsam suchte er die Erinnerungen dieser Tage
zusam men, wie man kleine Porzellanscherben mit einer Pinzette zusammenpickt, um den Bruch an einer alten Dose wieder zu kitten. Es waren lauter kleine Splitter, keiner hatte Zusam menhang mit den andern, keiner deutete durch Struktur und Farbe aufs Ganze. Was für Erinnerungen! Er sah eine kleine blaue Schachtel, aus der er mit zitternder Hand das Amtssie gel seines Chefs herausnahm. Er sah den alten Mann an der Kasse, der ihm seinen Scheck mit braunen und blauen Bank noten ausbezahlte. Er sah eine Telephonzelle, wo er sich, wäh-404
rend er ins Rohr sprach, mit der linken Hand gegen die Wand stemmte, um aufrecht zu bleiben. Vielmehr er sah nicht sich, er sah einen Menschen dies alles tun, einen frem den Menschen, der Klein hieß und nicht er war. Er sah die sen Menschen Briefe verbrennen, Briefe schreiben. Er sah ihn in einem Restaurant essen. Er sah ihn
– nein, das war kein Fremder, das war er, das war Friedrich Klein selbst! – nachts über das Bett eines schlafenden Kindes gebückt. Nein, das war er selbst gewesen!
Wie weh das tat, auch jetzt wieder in der Erinnerung!
Wie weh das tat, das Gesicht des schlafen den Kindes zu sehen und seine Atemzüge zu hören und zu wissen: nie mehr würde man diese lieben Augen off en sehen, nie mehr diesen kleinen Mund lachen und essen sehen, nie mehr von ihm geküßt werden. Wie weh das tat! Warum tat jener Mensch Klein sich selber so weh!
Er gab es auf, die kleinen Scherben zusammenzusetzen. Der Zug hielt, ein fremder großer Bahnhof lag da, Türen schlugen, Koff er schwankten am Wagenfenster vorüber, Pa pierschilder blau und gelb riefen laut: Hotel Milano – Hotel Kontinental! Mußte er darauf achten?
War es wichtig? War eine Gefahr?
Er schloß die Augen und sank eine Minute lang in Betäu bung, schreckte sofort wieder auf, riß die Augen weit auf, spielte den Wachsamen. Wo war er? Der Bahnhof war noch da. Halt – wie heiße ich? Zum tau-sendstenmal machte er die Probe. Also: Wie heiße ich?
Klein. Nein, zum Teufel! Fort, mit Klein, Klein existiert 405
nicht mehr. Er tastete nach der
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