Meistererzählungen
unbegreifl ich ent gegen. Vor ihm fi el der Hügel steil hinab, da lag unten tief geschachtelt die Stadt, senkrecht blickte er auf erleuchtete Plätze hinunter. Von allen Seiten stürzten steile spitze Zuckerhutberge jäh herab in einen See, der am Widerschein un zähliger Kailaternen kenntlich wurde. Eine Seilbahn senkte sich wie ein Korb den Schacht hinunter zur Stadt, halb ge fährlich, halb spielzeughaft. Auf einigen der hohen Bergke gel glühten erleuchtete Fenster, bis zum Gipfel in launischen Reihen, Stufen und Sternbildern geordnet. Von der Stadt wuchsen die Dächer großer Hotels herauf, dazwischen schwarzdunkle Gärten, ein warmer sommerhafter
Abend wind voll Staub und Duft fl atterte wohlgelaunt unter den grellen Laternen. Aus der wirr durchfunkel-ten Finsternis am See schwoll taktfest und lächerlich eine Blechmusik heran.
Ob das nun Honolulu, Mexiko oder Italien war, konnte ihm einerlei sein. Es war Fremde, es war neue Welt und neue Luft, und wenn sie ihn auch verwirrte und heimlich in Angst versetzte, sie duftete doch auch nach Rausch und Vergessen und neuen, unerprobten Gefühlen.
Eine Straße schien ins Freie zu führen, dorthin schlenderte er, an Lagerschuppen und leeren Last-412
fuhrwerken vorüber, dann bei kleinen Vorstadthäusern vorbei, wo laute Stimmen italienisch schrien und im Hof eines Wirtshauses eine Mandoline schrillte.
Im letzten Hause klang eine Mädchen stimme auf, ein Duft von Wohllaut beklemmte ihm das Herz, viele Worte konnte er zu seiner Freude verstehen und den Refrain sich merken:
Mama non vuole, papa ne meno,
Come faremo a fare l’amor?
Es klang wie aus den Träumen seiner Jugend her. Be-wußtlos schritt er die Straße weiter, fl oß hingerissen in die warme Nacht, in der die Grillen sangen. Ein Weinberg kam, und bezaubert blieb er stehen: Ein Feuerwerk, ein Reigen von kleinen, grün glühenden Lichtern erfüll-te die Luft und das duftende, hohe Gras, tausend Stern-schnuppen taumelten trunken durcheinander. Es war ein Schwarm von Leuchtkä fern, langsam und lautlos geisterten sie durch die warm auf zuckende Nacht. Die sommerliche Luft und Erde schien sich phantastisch in leuchtenden Figuren und tausend kleinen be weglichen Sternbildern auszuleben.
Lange stand der Fremde dem Zauber hingegeben
und ver gaß die ängstliche Geschichte dieser Reise und die ängstliche Geschichte seines Lebens über der schö-
nen Seltsamkeit. Gab es noch eine Wirklichkeit? Noch Geschäfte und Polizei? Noch Assessoren und Kursbe-413
richte? Stand zehn Minuten von hier ein Bahnhof?
Langsam wandte sich der Flüchtling, der aus seinem Leben heraus in ein Märchen gereist war, gegen die Stadt zurück. Laternen glühten auf. Menschen riefen ihm Worte zu, die er nicht verstand. Unbekannte Riesenbäume standen voll Blü ten, eine steinerne Kirche hing mit schwindelnder Terrasse über dem Absturz, helle Straßen, von Treppen unterbrochen, fl ossen rasch wie Bergbäche in das Städtchen hinab.
Klein fand sein Hotel, und mit dem Eintritt in die überhel len nüchternen Räume, Halle und Treppenhaus schwand sein Rausch dahin, und es kehrte die ängstliche Schüchtern heit zurück, sein Fluch und Kainszeichen.
Betreten drückte er sich an den wachen, taxierenden Blicken des Concierge, der Kellner, des Liftjungen, der Hotelgäste vorbei in die öde ste Ecke eines Restaurants.
Er bat mit schwacher Stimme um die Speisekarte, und las, als wäre er noch arm und müßte spa ren, bei allen Speisen sorgfältig die Preise mit, bestellte etwas Wohlfeiles, ermunterte sich künstlich zu einer halben Fla sche Bordeaux, der ihm nicht schmeckte, und war froh, als er endlich hinter verschlossener Tür in seinem schäbigen klei nen Zimmer lag. Bald schlief er ein, schlief gierig und tief, aber nur zwei, drei Stunden. Noch mitten in der Nacht wurde er wieder wach.
Er starrte, aus den Abgründen des Unbewußten kommend, in die feindselige Dämmerung, wußte nicht, wo er war, hatte das drückende und schuldhafte Gefühl, 414
Wichtiges vergessen und versäumt zu haben. Wirr um-herhastend er fühlte er einen Drücker und drehte Licht an. Das kleine Zim mer sprang ins grelle Licht, fremd, öde, sinnlos. Wo war er? Böse glotzten die Plüschsessel.
Alles blickte ihn kalt und fordernd an. Da fand er sich im Spiegel und las das Verges sene aus seinem Gesicht.
Ja, er wußte. Dies Gesicht hatte er früher nicht gehabt, nicht diese Augen, nicht diese Falten, nicht diese Farben. Es war ein neues Gesicht, schon einmal war
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