Meistererzählungen
Brusttasche, wo der Paß steckte.
Wie war das alles ermüdend! Überhaupt – wenn man wüßte, wie wahnsinnig mühsam es ist, ein Verbrecher zu sein – –! Er ballte die Hände vor Anstrengung. Das alles hier ging ihn ja gar nichts an, Hotel Milano, Bahnhof, Koff erträger, das alles konnte er ruhig weglassen
– nein, es handelte sich um anderes, um Wichtiges. Um was? Im Halbschlummer, der Zug fuhr schon wieder, kam er zu seinen Gedanken zurück. Es war ja so wichtig, es handelte sich ja darum, ob das Leben noch länger zu ertragen sein würde. Oder – war es nicht ein facher, dem ganzen ermüdenden Unsinn ein Ende zu ma chen?
Hatte er denn nicht Gift bei sich? Das Opium? – Ach nein, er erinnerte sich, das Gift hatte er ja nicht bekommen. Aber er hatte den Revolver. Ja richtig. Sehr gut.
Ausgezeich net.
»Sehr gut« und »ausgezeichnet« sagte er laut vor sich hin und fügte mehr solche Worte hinzu, plötzlich hörte er sich sprechen, erschrak, sah in der Fensterscheibe sein entstelltes Gesicht gespiegelt, fremd, fratzenhaft und traurig. Mein Gott, schrie er in sich hinein, mein Gott!
Was tun? Wozu noch leben? Mit der Stirn in dies bleiche Fratzenbild hinein, sich in diese trübe blöde Scheibe stürzen, sich ins Glas ver beißen, sich am Glase den Hals abschneiden. Mit dem Kopf auf die Bahnschwelle schlagen, dumpf und dröhnend, von den Rädern der vielen Wagen aufgewickelt werden, alles zu sammen, Därme 406
und Hirn, Knochen und Herz, auch die Au gen – und auf den Schienen zerrieben, zu Nichts gemacht, ausradiert.
Dies war das einzige, was noch zu wünschen war, was noch Sinn hatte.
Während er verzweifelt in sein Spiegelbild starrte, mit der Nase ans Glas stieß, schlief er wieder ein. Vielleicht Sekun den, vielleicht Stunden. Hin und her schlug sein Kopf, er öff nete die Augen nicht.
Er erwachte aus einem Traum, dessen letztes Stück ihm im Gedächtnis blieb. Er saß, so träumte ihm, vorn auf einem Au tomobil, das fuhr rasch und ziemlich waghalsig durch eine Stadt, bergauf und -ab. Neben ihm saß jemand, der den Wa gen lenkte. Dem gab er im Traum einen Stoß in den Bauch, riß ihm das Steuerrad aus den Händen und steuerte nun sel ber, wild und beklemmend über Stock und Stein, knapp an Pferden und an Schau-fenstern vorbei, an Bäume streifend, daß ihm Funken vor den Augen stoben.
Aus diesem Traum erwachte er. Sein Kopf war freier ge worden. Er lächelte über die Traumbilder. Der Stoß in den Bauch war gut, er empfand ihn freudig nach. Nun begann er den Traum zu rekonstruieren und über ihn nachzudenken. Wie das an den Bäumen vorbei gepfi ff en hatte! Vielleicht kam es von der Eisenbahnfahrt? Aber das Steuern war, bei al ler Gefahr, doch eine Lust gewesen, ein Glück, eine Erlö sung! Ja, es war besser, selber zu steuern und dabei in Scherben zu gehen, als immer von einem andern gefahren und ge lenkt zu werden.
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Aber – wem hatte er eigentlich im Traum diesen Stoß ge geben? Wer war der fremde Chauff eur, wer war neben ihm am Steuer des Automobils gesessen? Er konnte sich an kein Gesicht, an keine Figur erinnern – nur an ein Gefühl, eine vage dunkle Stimmung … Wer konnte es gewesen sein? Je mand, den er verehrte, dem er Macht über sein Leben ein räumte, den er über sich duldete, und den er doch heimlich haßte, dem er doch schließ-
lich den Tritt in den Bauch gab! Vielleicht sein Vater?
Oder einer seiner Vorgesetzten? Oder – oder war es am Ende –?
Klein riß die Augen auf. Er hatte ein Ende des verlorenen Fadens gefunden. Er wußte alles wieder. Der Traum war ver gessen. Es gab Wichtigeres. Jetzt wußte er! Jetzt begann er zu wissen, zu ahnen, zu schmecken, warum er hier im Schnell zug saß, warum er nicht mehr Klein hieß, warum er Geld un terschlagen und Papiere gefälscht hatte. Endlich, endlich!
Ja, es war so. Es hatte keinen Sinn mehr, es vor sich zu ver heimlichen. Es war seiner Frau wegen geschehen, einzig sei ner Frau wegen. Wie gut, daß er es endlich wußte!
Vom Turme dieser Erkenntnis aus meinte er plötzlich weite Strecken seines Lebens zu überblicken, das ihm seit langem immer in lauter kleine, wertlose Stücke auseinander gefallen war. Er sah auf eine lange durch-laufene Strecke zu rück, auf seine ganze Ehe, und die Strecke erschien ihm wie eine lange, müde, öde Straße, 408
wo ein Mann allein im Staube sich mit schweren Lasten schleppt. Irgendwo hinten, unsicht bar jenseits des Staubes, wußte er leuchtende Höhen und grüne rauschende Wipfel
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