Meistererzählungen
auf Herz und Lunge, der sich immer von neuem bis an die Grenze des Unerträglichen steigerte. Was Angst war, hatte er ja längst gewußt, seit Jahren schon, nicht seit den letzten Wochen und Tagen erst! Aber so hatte er sie noch nie an der Kehle gefühlt! Zwanghaft mußte er an die wertlose sten Dinge denken, an einen vergessenen Schlüssel, an die Hotelrechnung, und daraus Berge von Sorgen und peinli chen Erwartungen schaff en.
Die Frage, ob dies schäbige Zimmerchen für die Nacht wohl mehr als dreieinhalb Fran ken kosten würde, und ob er in diesem Fall noch länger im Hause bleiben solle, hielt ihn wohl eine Stunde lang in Atem, Schweiß und Herzklopfen. Dabei wußte er genau, wie dumm diese Gedanken seien, und sprach immer wieder sich selbst vernünftig und begütigend zu, wie einem trotzigen Kind, rechnete sich an den Fingern die völlige Haltlosigkeit seiner Sorgen vor – vergebens, vollkommen vergebens! Vielmehr dämmerte auch hinter die-421
sem Trösten und Zureden etwas wie blutiger Hohn auf, als sei auch das bloß Getue und Th
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ter, gerade-
so wie damals sein Getue wegen des Mörders W. Daß die Todesangst, daß dies grauenhafte Gefühl einer Umschnürung und eines Verurteiltseins zu qualvollem Ersticken nicht von der Sorge um die paar Franken oder von ähnlichen Ursachen herkomme, war ihm ja klar.
Dahinter lauerte Schlimmeres, Ernsteres – aber was?
Es mußten Dinge sein, die mit dem blutigen Schullehrer, mit seinen eigenen Mordwünschen und mit allem Kranken und Ungeordneten in ihm zu tun hatten.
Aber wie daran rühren? Wie den Grund fi n den? Da gab es keine Stelle in ihm innen, die nicht blutete, die nicht krank und faul und wahnsinnig schmerzempfi ndlich war. Er spürte: Lange war das nicht zu ertragen.
Wenn es so weiterging, und namentlich wenn noch manche solche Nächte kamen, dann wurde er wahnsinnig oder nahm sich das Leben.
Angespannt setzte er sich im Bett aufrecht und suchte das Gefühl seiner Lage auszuschöpfen, um einmal damit fertig zu werden. Aber es war immer dasselbe: Einsam und hilfl os saß er, mit fi eberndem Kopf und schmerzlichem Herzdruck, in Todesbangigkeit dem Schicksal gegenüber wie ein Vogel der Schlange, festgebannt und von Furcht verzehrt. Schick sal, das wußte er jetzt, kam nicht von irgendwoher, es wuchs im eigenen Innern. Wenn er kein Mittel dagegen fand, so fraß es ihn auf – dann war ihm beschieden, Schritt für Schritt von der Angst, von 422
dieser grauenhaften Angst verfolgt und aus seiner Vernunft verdrängt zu werden, Schritt für Schritt, bis er am Rande stand, den er schon nahe fühlte.
Verstehen können – das wäre gut, das wäre vielleicht die Rettung! Er war noch lange nicht am Ende mit dem Erken nen seiner Lage und dessen, was mit ihm vorgegangen war. Er stand noch ganz im Anfang, das fühlte er wohl. Wenn er sich jetzt zusammenraff en und alles ganz genau zusammen fassen, ordnen und überlegen könnte, dann würde er viel leicht den Faden fi nden. Das Ganze würde einen Sinn und ein Gesicht bekommen und würde dann vielleicht zu ertra gen sein. Aber diese Anstrengung, dieses letzte Sichaufraff en war ihm zuviel, es ging über seine Kräfte, er konnte einfach nicht. Je angespannter er zu denken versuchte, desto schlech ter ging es, er fand statt Erinnerungen und Erklärungen in sich nur leere Löcher, nichts fi el ihm ein, und dabei verfolgte ihn schon wieder die quälende Angst, er möchte gerade das Wichtigste vergessen haben. Er stöberte und suchte in sich herum wie ein nervöser Reisender, der alle Taschen und Koff er nach seiner Fahrkarte durchwühlt, die er vielleicht am Hut oder gar in der Hand hat. Aber was half es, das Viel leicht?
Vorher, vor einer Stunde oder länger – hatte er da nicht eine Erkenntnis gehabt, einen Fund getan? Was war es gewesen, was? Es war fort, er fand es nicht wieder.
Verzweifelnd schlug er sich mit der Faust an die Stirn.
Gott im Himmel, laß mich den Schlüssel fi nden! Laß 423
mich nicht so umkommen, so jammervoll, so dumm, so traurig! In Fetzen gelöst wie Wol kentreiben im Sturm fl oh seine ganze Vergangenheit an ihm vorbei, Millionen Bilder, durcheinander und übereinander unkenntlich und höhnend, jedes an irgend etwas erinnernd – an was? An was?
Plötzlich fand er den Namen ›Wagner‹ auf seinen Lippen. Wie bewußtlos sprach er ihn aus: ›Wagner – Wagner.‹ Wo kam der Name her? Aus welchem Schacht?
Was wollte er? Wer war Wagner? Wagner?
Er biß sich an dem Namen fest. Er hatte
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