Meistererzählungen
zuzeiten gekommen, wie etwa ein leichter Schwindelanfall, wo man meint, sich fallenlassen zu müssen. Das Bild aber, die Mordtat, stammte aus einer be sonderen Quelle her! Unbegreifl ich, daß er das erst jetzt sah!
Damals, als er zum erstenmal die Zwangsvorstellung vom Töten seiner Familie hatte und über diese teufl ische Vision zu Tode erschrocken war, da hatte ihn, gleichsam höhnisch, eine kleine Erinnerung heimgesucht. Es war diese: Vor Jah ren, als sein Leben noch harmlos, ja beinahe glücklich war, sprach er einmal mit Kollegen über die Schreckenstat eines süddeutschen Schullehrers namens W. (er kam nicht gleich auf den Namen), der seine ganze Familie auf eine furchtbar blutige Weise abgeschlachtet und dann die Hand gegen sich selber erhoben hatte. Es war die Frage gewesen, wie weit bei einer solchen Tat von Zurechnungsfähigkeit die Rede sein könne, und im weiteren darüber, ob und wie man überhaupt eine solche Tat, eine solche grausige Explosion menschlicher 418
Scheußlichkeit verstehen und erklären könne. Er, Klein, war damals sehr erregt gewesen und hatte gegen einen Kollegen, welcher jenen Totschlag psychologisch zu erklären ver suchte, überaus heftig geäußert: einem so scheußlichen Ver brechen gegenüber gebe es für einen anständigen Mann keine andere Haltung als Entrüstung und Abscheu, eine sol che Bluttat könne nur im Gehirn eines Teufels entstehen, und für einen Verbrecher dieser Art sei überhaupt keine Strafe, kein Gericht, keine Folter streng und schwer genug. Er erinnerte sich noch heut genau des Tisches, an dem sie sa ßen, und des ver-wunderten und etwas kritischen Blickes, mit dem jener ältere Kollege ihn nach diesem Ausbruch seiner Entrü-
stung gestreift hatte.
Damals nun, als er sich selber zum erstenmal in einer häß lichen Phantasie als Mörder der Seinigen sah und vor dieser Vorstellung mit einem Schauder zurück-schreckte, da war ihm dies um Jahre zurückliegende Gespräch über den Ver wandtenmörder W. sofort wieder eingefallen. Und seltsam, obwohl er hätte schwören können, daß er damals völlig auf richtig seine wahrste Empfi ndung ausgesprochen habe, war jetzt in ihm innen eine häßliche Stimme da, die ihn verhöhnte und ihm zurief: schon damals, schon damals vor Jahren bei dem Gespräch über den Schullehrer W. habe sein Innerstes dessen Tat verstanden, verstanden und gebilligt, und seine so heftige Entrüstung und Erregung sei nur daraus entstanden, daß der Philister und Heuchler in 419
ihm die Stimme des Her zens nicht habe gelten lassen wollen. Die furchtbaren Strafen und Foltern, die er dem Gattenmörder wünschte, und die entrüsteten Schimpfworte, mit denen er dessen Tat bezeich nete, die hatte er eigentlich gegen sich selber gerichtet, gegen den Keim zum Verbrechen, der gewiß damals schon in ihm war!
Seine große Erregung bei diesem ganzen Gespräch und Anlaß war nur daher gekommen, daß in Wirklichkeit er sich selbst sitzen sah, der Bluttat angeklagt, und daß er sein Ge wissen zu retten suchte, indem er auf sich selber jede An klage und jedes schwere Urteil häufte. Als ob er damit, mit diesem Wüten gegen sich selbst, das heimliche Verbrecher tum in seinem Innern bestrafen oder übertäuben könnte.
So weit kam Klein mit seinen Gedanken, und er fühl-te, daß es sich da für ihn um Wichtiges, ja um das Leben selber handle. Aber es war unsäglich mühsam, diese Erinnerungen und Gedanken auseinanderzufädeln und zu ordnen. Eine aufzuckende Ahnung letzter, erlösender Erkenntnisse unterlag der Müdigkeit und dem Widerwillen gegen seine ganze Situation. Er stand auf, wusch sich das Gesicht, ging barfuß auf und ab, bis ihn fröstel-te, und dachte nun zu schlafen.
Aber es kam kein Schlaf. Er lag unerbittlich seinen Emp fi ndungen ausgeliefert, lauter häßlichen, schmerzenden und demütigenden Gefühlen: dem Haß gegen seine Frau, dem Mitleid mit sich selber, der Ratlosigkeit, dem Bedürfnis nach Erklärungen, Entschuldigun-420
gen, Trostgründen. Und da ihm für jetzt keine andern Trostgründe einfi elen, und da der Weg zum Verständnis so tief und schonungslos in die heim lichsten und gefährlichsten Dickichte seiner Erinnerungen führ-te und der Schlaf nicht wiederkommen wollte, lag er den Rest der Nacht in einem Zustande, den er in diesem häßli
chen Grad noch nicht gekannt hatte. Alle
die widerlichen Gefühle, die in ihm stritten, vereinig-ten sich zu einer furcht baren, erstickenden, tödlichen Angst, zu einem teufl ischen Alpdruck
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