Meistererzählungen
es ihm aufgefallen, im Spiegel einer Glasscheibe, irgend wann im gehetzten Th
eaterstück dieser wahnsinnigen Tage.
Es war nicht sein Gesicht, das gute, stille und etwas duldende Friedrich-Klein-Gesicht. Es war das Gesicht eines Gezeich neten, vom Schicksal mit neuen Zeichen gestempelt, älter und auch jünger als das frühere, maskenhaft und doch wun
derlich durchglüht. Niemand
liebte solche Gesichter.
Da saß er im Zimmer seines Hotels im Süden mit
seinem gezeichneten Gesicht. Daheim schliefen seine Kinder, die er verlassen hatte. Nie mehr würde er sie schlafen, nie mehr sie aufwachen sehen, nie mehr ihre Stimmen hören. Er würde niemals mehr aus dem Wasserglas auf jenem Nachttisch trin ken, auf dem bei der Stehlampe die Abendpost und ein Buch lagen, und dahinter an der Wand überm Bett die Bilder sei ner Eltern, und alles, und alles. Statt dessen starrte er hier im ausländischen Hotel in den Spiegel, in das traurige und angstvolle Gesicht des Verbrechers Klein, und die 415
Plüschmö bel blickten kalt und schlecht, und alles war anders, nichts war mehr in Ordnung. Wenn sein Vater das noch erlebt hätte! Niemals seit seiner Jugendzeit war Klein so unmittel bar und so einsam seinen Gefühlen überlassen gewesen, nie mals so in der Fremde, niemals so nackt und senkrecht unter der unerbittlichen Sonne des Schicksals. Immer war er mit ir gend etwas beschäftigt gewesen, mit etwas anderm als mit sich selbst, immer hatte er zu tun und zu sorgen gehabt, um Geld, um Beförderung im Amt, um Frieden im Hause, um Schulgeschichten und Kinderkrankheiten; immer waren große, heilige Pfl ichten des Bürgers, des Gatten, des Vaters um ihn her gestanden, in ihrem Schutz und Schatten hatte er gelebt, ihnen hatte er Opfer gebracht, von ihnen her war sei nem Leben Rechtfertigung und Sinn gekommen. Jetzt hing er plötzlich nackt im Weltraum, er allein Sonne und Mond gegenüber, und fühlte die Luft um sich dünn und eisig.
Und das Wunderliche war, daß kein Erdbeben ihn in diese bange und lebensgefährliche Lage gebracht hatte, kein Gott und kein Teufel, sondern er allein, er selber!
Seine eigene Tat hatte ihn hierhergeschleudert, hier allein mitten in die fremde Unendlichkeit gestellt. In ihm selbst war alles ge wachsen und entstanden, in seinem eigenen Herzen war das Schicksal groß geworden, Verbrechen und Aufl ehnung, Wegwerfen heiliger Pfl ichten, Sprung in den Weltenraum, Haß gegen sein Weib, Flucht, Vereinsamung und vielleicht Selbstmord. Ande-416
re mochten wohl auch Schlimmes und Um stürzendes erlebt haben, durch Brand und Krieg, durch Un fall und bösen Willen anderer – er jedoch, der Verbrecher Klein, konnte sich auf nichts dergleichen berufen, auf nichts hinausreden, nichts verantwortlich machen, höchstens viel leicht seine Frau. Ja, sie, sie allerdings konnte und mußte her angezogen und verantwortlich gemacht werden, auf sie konnte er deuten, wenn einmal Rechenschaft von ihm ver langt wurde!
Ein großer Zorn brannte in ihm auf, und mit einemmal fi el ihm etwas ein, brennend und tödlich, ein Knäu-el von Vor stellungen und Erlebnissen. Es erinnerte ihn an den Traum vom Automobil, und an den Stoß, den er seinem Feinde dort in den Bauch gegeben hatte.
Woran er sich nun erinnerte, das war ein Gefühl, oder eine Phantasie, ein seltsamer und krankhafter See-lenzustand, eine Versuchung, ein wahnsinniges Gelüst, oder wie immer man es bezeichnen wollte. Es war die Vorstellung oder Vi sion einer furchtbaren Bluttat, die er beging, indem er sein Weib, seine Kinder und sich selbst ums Leben brachte. Mehr mals, so besann er sich jetzt, während noch immer der Spie gel ihm sein gestempeltes, irres Verbrechergesicht zeigte – mehrmals hatte er sich diesen vierfachen Mord vorstellen müssen, vielmehr sich verzweifelt gegen diese häßliche und unsinnige Vision gewehrt, wie sie ihm damals erschienen war. Genau damals hatten die Gedanken, Träume und quä lenden Zustände in ihm begonnen, so schien ihm, 417
welche dann mit der Zeit zu der Unterschlagung und zu seiner Flucht geführt hatten. Vielleicht – es war möglich – war es nicht bloß die übergroß gewordene Abneigung gegen seine Frau und sein Eheleben gewesen, die ihn von Hause fortge trieben hatte, sondern noch mehr die Angst davor, daß er ei nes Tages doch noch dies viel furchtbarere Verbrechen bege hen möchte: sie alle töten, sie schlachten und in ihrem Blut liegen sehen. Und weiter: auch diese Vorstellung noch hatte eine Vorgeschichte. Sie war
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