Meistererzählungen
folgenden Zeilen und Sätze lie-
ßen ihn unberührt. Er legte das Buch weg, sah auf die Taschenuhr, fand sie unaufgezogen und abgelaufen, stand auf und blickte durchs Fenster, es schien gegen Abend zu sein.
Er fühlte sich etwas angegriff en wie nach starker geistiger Anstrengung, aber nicht unangenehm und fruchtlos er schöpft, sondern sinnvoll ermüdet wie nach befriedigender Arbeit. Ich habe wohl eine Stunde oder mehr geschlafen, dachte er, und trat vor den Spiegel-schrank, um sein Haar zu bürsten. Es war ihm seltsam frei und wohl zumute, und im Spiegel sah er sich lächeln! Sein bleiches überanstrengtes Ge sicht, das er seit langem nur noch verzerrt und starr und irr gesehen hatte, stand in einem sanften, freundlichen, guten Lä-
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cheln. Verwundert schüttelte er den Kopf und lächelte sich selber zu.
Er ging hinab, im Restaurant wurde an einigen Tischen schon soupiert. Hatte er nicht eben erst gegessen?
Einerlei, er hatte große Lust, es sofort wieder zu tun, und er bestellte, mit Eifer den Kellner befragend, eine gute Mahlzeit.
»Will der Herr vielleicht heut abend nach Castiglione fah ren?« fragte ihn der Kellner beim Vorlegen. »Es geht ein Mo torboot vom Hotel.«
Klein dankte mit Kopfschütteln. Nein, solche
Hotelveran staltungen waren nichts für ihn. – Castiglione? Davon hatte er schon sprechen hören. Es war ein Vergnügungsort mit ei ner Spielbank, so etwas wie ein kleines Monte Carlo. Lieber Gott, was sollte er dort tun?
Während der Kaff ee gebracht wurde, nahm er aus dem Blumenstrauß, der in einer Kristallvase vor ihm stand, eine kleine weiße Rose und steckte sie an. Von einem Nebentisch her streifte ihn der Rauch einer frisch angezündeten Zigarre. Richtig, eine gute Zigarre wollte er auch haben.
Unschlüssig stieg er dann vor dem Hause hin und her. Ganz gerne wäre er wieder in jene dörfl iche Gegend gegan gen, wo er gestern abend beim Gesang der Italienerin und dem magischen Funkentanz der Leuchtkäfer zum erstenmal die süße Wirklichkeit des Südens gespürt hatte. Aber es zog ihn auch zum Park, an das 440
schattig überlaubte stille Wasser, zu den seltsamen Bäumen, und wenn er die Dame mit dem gelben Haar wieder angetroff en hätte, so würde ihr kalter Blick ihn jetzt nicht ärgern noch beschämen. Übrigens – wie unausdenklich lang war es seit gestern! Wie fühlte er sich in diesem Süden schon heimisch! Wieviel hatte er erlebt, ge dacht, erfahren!
Er schlenderte eine Straße weit, umfl ossen von einem gu ten, sanften Sommerabendwind. Nachtfalter kreisten leiden schaftlich um die eben entzündeten Straßenlaternen, fl eißige Leute schlossen spät ihre Geschäfte zu und klappten Eisen stangen vor die Läden, viele Kinder trieben sich noch herum und rannten bei ihren Spielen zwischen den kleinen Tischen der Cafés herum, an denen mitten auf der Straße Kaff ee und Limonaden getrunken wurden. Ein Marienbild in einer Wandnische lächelte im Schein brennender Lichter. Auch auf den Bänken am See war noch Leben, wurde gelacht, gestrit-ten, gesungen, und auf dem Wasser schwamm hier und dort noch ein Boot mit hemdsärmeligen Ruderern und Mädchen in weißen Blusen. Klein fand leicht den Weg zum Park wie der, aber das hohe Tor stand geschlossen.
Hinter den hohen Eisenstangen stand die schweigende Baumfi nsternis fremd und schon voll Nacht und Schlaf.
Er blickte lang hinein. Dann lächelte er, und es wurde ihm nun erst der heimliche Wunsch bewußt, der ihn an diese Stelle vor das verschlossene Eisentor getrieben hatte. Nun, es war einerlei, es ging auch ohne Park.
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Auf einer Bank am See saß er friedlich und sah dem vor
übertreibenden Volk zu. Er entfaltete im hellen Laternen licht eine italienische Zeitung und versuchte zu lesen. Er ver stand nicht alles, aber jeder Satz, den er zu übersetzen ver mochte, machte ihm Spaß. Erst allmählich begann er, über die Grammatik weg, auf den Sinn zu achten, und fand mit ei nem gewissen Erstaunen, daß der Artikel eine heftige, erbit terte Schmähung seines Volkes und Vaterlandes war. Wie seltsam, dachte er, das alles gibt es noch! Die Italiener schrie ben über sein Volk, genauso wie die heimischen Zeitungen es immer über Italien getan hatten, genauso richtend, genauso empört, genauso unfehlbar vom eigenen Recht und fremden Unrecht überzeugt! Auch daß diese Zeitung mit ihrem Haß und ihrem grausamen Aburteilen ihn nicht zu empören und zu ärgern vermochte, war ja seltsam. Oder nicht? Nein, wozu sich empören? Das alles
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