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Meistererzählungen

Meistererzählungen

Titel: Meistererzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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nach dem Süden ge zogen hatte? Ein angeborener Trieb, eine Schicksalslinie, ein lebenslanger unbewußter Drang?
    War die Begegnung mit ihr ihm vorbestimmt? Über ihn verhängt?
    Er hörte ein Bruchstück ihres Gesprächs mit ange -
    streng tem Lauschen aus dem vielstimmigen Geplauder 448
    heraus. Zu einem hübschen, geschmeidigen, eleganten Jüngling mit ge welltem schwarzem Haar und glattem Gesicht hörte er sie sagen: »Ich möchte noch einmal richtig spielen, nicht hier, nicht um Pralinés, drüben in Castiglione oder in Monte Carlo.« Und dann, auf seine Antwort hin, nochmals: »Nein, Sie wissen ja gar nicht, wie das ist! Es ist vielleicht häßlich, es ist vielleicht nicht klug, aber es ist hinreißend.«
    Nun wußte er etwas von ihr. Es machte ihm großes Ver gnügen, sie beschlichen und belauscht zu haben.
    Durch ein erleuchtetes kleines Fenster hatte er, der Fremde, von außen her, auf Posten stehend, einen kurzen Späherblick in ihre Seele werfen können. Sie hatte Wünsche. Sie wurde von Ver langen gequält nach etwas, was erregend und gefährlich war, nach etwas, an das man sich verlieren konnte. Es war ihm lieb, das zu wissen. – Und wie war das mit Castiglione? Hatte er davon nicht heut schon einmal reden hören? Wann? Wo? Einerlei, er konnte jetzt nicht denken. Aber er hatte jetzt wie der, wie schon mehrmals in diesen seltsamen Tagen, die Empfi ndung, daß alles, was er tat, hörte, sah und dachte, voll von Beziehung und Notwendigkeit war, daß ein Führer ihn leite, daß lange, ferne Ursachenreihen ihre Früchte trugen. Nun, mochten sie ihre Früchte tragen. Es war gut so.
    Wieder überfl og ihn ein Glücksgefühl, ein Gefühl von Ruhe und Sicherheit des Herzens, wunderbar entzük-kend für den, der die Angst und das Grauen kennt. Er 449
    erinnerte sich eines Wortes aus seiner Knabenzeit. Sie hatten, Schul knaben, miteinander darüber gesprochen, wie es wohl die Seiltänzer machen, daß sie so sicher und angstlos auf dem Seil gehen konnten. Und einer hatte gesagt: ›Wenn du auf dem Stubenboden einen Kreidestrich ziehst, ist es geradeso schwer, genau auf diesem Kreidestrich vorwärtszugehen, wie auf dem dünnsten Seil. Und doch tut man es ruhig, weil keine Gefahr dabei ist. Wenn du dir vorstellst, es sei bloß ein Krei destrich, und die Luft daneben sei Fußboden, dann kannst du auf jedem Seil sicher gehen.‹ Das fi el ihm ein. Wie schön das war! War es bei ihm nicht vielleicht umgekehrt?
    Ging es ihm nicht so, daß er auch auf keinem ebenen Boden mehr ru hig und sicher gehen konnte, weil er ihn für ein Seil hielt?
    Er war innig froh darüber, daß solche tröstlichen Sachen ihm einfallen konnten, daß sie in ihm schlummer-ten und je und je zum Vorschein kamen. In sich innen trug man alles, worauf es ankam, von außen konnte niemand einem helfen. Mit sich selbst nicht im Krieg liegen, mit sich selbst in Liebe und Vertrauen leben – dann konnte man alles. Dann konnte man nicht nur seiltan-zen, dann konnte man fl iegen.
    Eine Weile hing er, alles um sich her vergessend, diesen Gefühlen auf weichen, schlüpfrigen Pfaden der Seele in sich nachtastend wie ein Jäger und Pfadfi nder, mit auf die Hand gestütztem Kopfe wie entrückt über seinem Tisch. In diesem Augenblick sah die Gelbe herüber und 450
    sah ihn an. Ihr Blick verweilte nicht lang, aber er las aufmerksam in seinem Ge sicht, und als er es fühlte und ihr entgegenblickte, spürte er etwas wie Achtung, etwas wie Teilnahme und auch etwas wie Verwandtschaft. Diesmal tat ihr Blick ihm nicht weh, tat ihm nicht Unrecht.
    Diesmal, so fühlte er, sah sie ihn, ihn selbst, nicht seine Kleider und Manieren, seine Frisur und seine Hände, sondern das Echte, Unwandelbare, Geheimnisvolle an ihm, das Einmalige, Göttliche, das Schicksal.
    Er bat ihr ab, was er heut Bittres und Häßliches über sie gedacht hatte. Aber nein, da war nichts abzubitten.
    Was er Böses und Törichtes über sie gedacht, gegen sie gefühlt hatte, das waren Schläge gegen ihn selbst gewesen, nicht ge gen sie. Nein, es war gut so. Plötzlich erschreckte ihn der Wiederbeginn der Musik. Das Orchester stimmte einen Tanz an. Aber die Bühne blieb leer und dunkel, statt auf sie waren die Blicke der Gäste nach dem leeren Viereck zwi schen den Tischen gerichtet. Er erriet, es würde getanzt wer den.
    Aufblickend sah er am Nebentisch die Gelbe und den jun gen bartlosen Elegant sich erheben. Er lächelte über sich, als er bemerkte, wie er auch gegen diesen Jüngling Widerstände

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