Meistererzählungen
Beobachtungen des politischen Alltags, kristallisiert als zeitlose Parodien, zeigen die drei hier aufgenomme-nen Beispiele: ›Wenn der Krieg noch zwei Jahre dauert‹
(1917), ›Das Reich‹ (1918) und ›Bei den Massageten‹ (1927).
Die erste wurde mitten im Krieg unter einem Decknamen publiziert und gipfelt in der geradezu sarkastischen Er-fi ndung einer ›Existenzbewilligungskarte‹ zur Anregung für Politiker und Bürokraten künftiger Generationen. Er-zählungen wie ›Die Stadt‹ (1910) und die ›Fremdenstadt im Süden‹ (1927) gehören zu den frappantesten Stücken dieser Gattung. Die erste, ein kom pletter kultur- und entwicklungsgeschichtlicher Abriß unse rer Zivilisation, geraff t auf knapp sechs, mit keinerlei Fach jargon überla-steten Seiten, die andere, eine leider nur zu ge naue Vor-wegnahme der künftigen und der bereits eingetroff enen Perversion des heutigen Massentourismus.
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Die Geschichte vom Ende des deutschen Gemischt-
kostlers ›Doktor Knölge‹ (ca. 1910), der von einem zum Gorilla zu
rückgebildeten Naturburschen – dem die
›Rückkehr zur Na tur‹ am besten geglückt war – erdrosselt wird, karikiert Beobachtungen aus dem Jahre 1907.
Damals war Hesse knapp einen Monat lang zur Kur in Locarno und auf dem Monte Verità, wo sich eine buntge-mischte Kolonie »weltfl üchtiger Idealisten, heilsbegieriger Propheten, Vegetabilisten, Frugivoren, Okkultisten, Lichtanbeter, Asketen, Gesundbeter, Magnetiseure und Th
eosophen« niedergelassen hatte. In ei nem Brief vom Monte Verità schrieb er damals: »Ich hatte den unent-behrlichen, instinktiven Glauben an die Willens freiheit nahezu verloren und genese hier recht wohlig zu ei nem sanskülottischen Urzustand zurück.« (14. 4. 1907) Schon die früheste Erzählung unserer Auswahl hat eine wahre Begebenheit zur Vorlage, die Hesse 1900
einer Zei tungsnotiz entnommen hatte. Im westlichen Jura waren da mals einige Wölfe aufgetaucht. Den auf-geschreckten Bauern gelang es, einen von ihnen einzuholen und zu erschlagen. Diese, durch die Identifi kation des Autors mit dem verfolg ten Einzelgänger so bewe-gende Geschichte ist eine ahnungs volle Vorwegnahme seiner eigenen, der künftigen ›Steppenwolf‹-Problematik. Auch in dem autobiographischen Frag ment
›Einkehr‹ (1918/19) kündigt sie sich an. Zum Ausdruck jedoch kommt sie erstmals in den beiden berühmten Selbst porträts ›Klein und Wagner‹ (1919) und ›Klingsors 577
letzter Sommer‹ (1919), die nach mehrjähriger, durch Hesses frei willige Kriegsgefangenenfürsorge, fast völliger schriftstelle rischer Abstinenz in wenigen Wochen unmittelbar nachein ander entstanden sind. Wie Friedrich Klein, der ehrbare Be amte, treusorgende Ehegatte und Familienvater mit dem be ziehungsreichen Decknamen Wagner, durchbricht Hesse plötzlich seine scheinbar so gesicherte häusliche Existenz, um irgendwo im Süden unterzutauchen, mit einem imaginä ren Verbrechen belastet, dem vierfachen Mord an seiner Frau und den drei Kindern. Jenseits der Alpen häutet er sich zum Maler Klingsor und assimiliert das Lebensgefühl der ex-pressionistischen Künstler der ›Brücke‹ und des ›Blauen Reiters‹, zu welchen er über ›Louis den Grausamen‹, den mit August Macke und Paul Klee befreundeten Maler Louis Moilliet, Zugang fi ndet.
Nicht ganz so unbekümmert läßt sich die Erzählung
›Pater Matthias‹ (ca. 1910) auf autobiographische Muster zu rückführen. Diese hintergründige Burleske vom Doppelle ben eines Klosterbruders, der auf einer Reise im Interesse der Wohltätigkeit seines Ordens arglos auf weltmännisch-lu stige Wege gerät, ist wohl eine Finger-
übung Hesses, ein spie lerischer Versuch, den lebenslang bewunderten Erzähltypus altitalienischer Novellen auch einmal in der eigenen Sprache und mit eigenem Stoff nachzubilden.
Unsere Auswahl bringt die Erzählungen in der Reihenfolge ihrer Entstehung und gibt damit einen Überblick 578
über Hesses epische Entwicklung, die zugleich Konstellationen seiner Biographie sichtbar macht. Denn, wie schon eingangs erwähnt, verhalten sich Leben und Werk dieses Autors gera dezu wie die Komponenten einer mathematischen Gleichung zueinander, so daß jede exakte Analyse seiner Schriften not wendig auf ihre biographische Entsprechung stößt. Eine sol che bruchlose Identität schlägt sich stilistisch als Klarheit und Einfachheit nieder. Um so schreiben zu können, muß man zuerst so gelebt haben. Dann ergibt sich ungesucht eine
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