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Meistererzählungen

Meistererzählungen

Titel: Meistererzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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das Wort
    ›bewußt‹ und ›unbewußt‹ so wertvoll, daß ich den Versuch doch mache.
    Also: stelle dir dein Wesen als einen tiefen See mit kleiner Oberfl äche vor. Die Oberfl äche ist das Be-wußtsein. Dort ist es hell, dort geht das vor sich, was wir denken heißen. Der Teil des Sees aber, der diese Oberfl äche bildet, ist ein unend lich kleiner. Er mag der schönste, der interessanteste Teil sein, denn in der Be-rührung mit Luft und Licht erneuert, ver ändert, berei-chert sich das Wasser. Aber die Wasserteile selbst, die an der Oberfl äche sind, wechseln unaufhörlich. Immer steigt es von unten, sinkt von oben, immer geschehen Strömungen, Ausgleichungen, Verschiebungen, jeder Teil Wassers will auch einmal oben sein. – Wie nun der See aus Wasser, so besteht unser Ich, oder unsre Seele (es ist nichts an den Worten gelegen) aus tausend und Millionen Teilen, aus einem stets wachsenden, stets 273
    wechselnden Gut von Be sitz, von Erinnerungen, von Eindrücken. Was unser Be wußtsein davon sieht, ist die kleine Oberfl äche. Den unend lich größeren Teil ihres Inhalts sieht die Seele nicht: Reich und gesund nun und zum Glück fähig scheint mir die Seele, in der aus dem großen Dunkel nach dem kleinen Lichtfelde hin ein be-ständiger, frischer Zuzug und Austausch vor sich geht.
    Die allermeisten Menschen hegen tausend und tausend Dinge in sich welche niemals an die helle Oberfl äche kom men, welche unten faulen und sich quälen. Darum, weil sie faulen und Qual machen, werden diese Dinge vom Be wußtsein immer und immer wieder zurückge-wiesen, die ste hen unter Verdacht und werden gefürchtet. Dies ist der Sinn jeder Moral – was als schädlich erkannt ist, darf nicht nach oben kommen! Es ist aber nichts schädlich und nichts nütz lich, alles ist gut, oder alles ist indiff erent. Jeder einzelne trägt Dinge in sich, die ihm angehören, die ihm gut und zu eigen sind, die aber nicht nach oben kommen dürfen. Kämen sie nach oben, sagt die Moral, so gäbe es ein Unglück. Es gäbe aber vielleicht gerade ein Glück! Darum soll alles nach oben kommen, und der Mensch, der sich seiner Moral unter wirft, verarmt.
    Das, was ich in den letzten Jahren erlebt habe, erscheint mir im Bild dieses Gleichnisses so, als sei ich ein See gewesen, dessen Tiefenschicht abgeschlossen lag, woraus Qual und Todesnähe entstand. Nun aber fl ießt wieder Oben und Un
    ten reger ineinander, vielleicht

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    noch mangelhaft, vielleicht noch lange nicht rege genug
    – aber immerhin, es fl ießt.
    (1918/19)
    Kinderseele
    Manchmal handeln wir, gehen aus und ein, tun dies und das, und es ist alles leicht, unbeschwert und gleichsam unver bindlich, es könnte scheinbar alles auch anders sein. Und manchmal, zu anderen Stunden, könnte nichts anders sein, ist nichts unverbindlich und leicht, und jeder Atemzug, den wir tun, ist von Gewalten bestimmt und schwer von Schicksal.
    Die Taten unseres Lebens, die wir die guten nennen und von denen zu erzählen uns leichtfällt, sind fast alle von jener ersten, ›leichten‹ Art, und wir vergessen sie leicht. Andere Taten, von denen zu sprechen uns Mühe macht, vergessen wir nie mehr, sie sind gewissermaßen mehr unser als andere, und ihre Schatten fallen lang über alle Tage unseres Lebens.
    Unser Vaterhaus, das groß und hell an einer hellen Straße lag, betrat man durch ein hohes Tor, und sogleich war man von Kühle, Dämmerung und steinern feuchter Luft umfan gen. Eine hohe, düstere Halle nahm einen schweigsam auf, derBoden von roten Sandsteinfl iesen führte leicht anstei gend gegen die Treppe, deren Beginn zuhinterst tief im Halbdunkel lag. Viele tausend Male bin ich durch dies hohe Tor eingegangen, und niemals hatte ich acht auf Tor und Flur, Fliesen und Treppe: dennoch war es immer ein Über gang in eine andere Welt, in ›unsere‹ Welt. Die Halle roch nach Stein, sie war fi nster und hoch, hinten führte die Treppe aus der dunklen 276
    Kühle empor und zu Licht und hel lem Behagen. Immer aber war erst die Halle und die ernste Dämmerung da: etwas von Vater, etwas von Würde und Macht, etwas von Strafe und schlechtem Gewissen. Tausend mal ging man lachend hindurch. Manchmal aber trat man herein und war sogleich erdrückt und zerkleinert, hatte Angst, suchte rasch die befreiende Treppe.
    Als ich elf Jahre alt war, kam ich eines Tages von der Schule her nach Hause, an einem von den Tagen, wo Schicksal in den Ecken lauert, wo leicht etwas passiert. An diesen Tagen scheint jedoch Unordnung und

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