Meistererzählungen
andern Lauf. Die alten Stimmen, die nach einer Einigung der Stämme verlangten, waren nie verstummt.
Ein großer, kraftvoller Staatsmann trat auf, ein glücklicher, überaus glänzender Sieg über ein großes Nach-barvolk stärkte und einigte das Land, dessen Stämme sich nun alle zusammenschlossen und ein großes Reich be
gründeten. Das arme Land der Träumer, Denker
und Musi kanten war aufgewacht, es war reich, es war groß, es war ei nig geworden und trat seine Laufbahn als ebenbürtige Macht neben den großen älteren Brüdern an. Draußen in der weiten Welt war nicht mehr viel zu rauben und zu erwerben, in den fernen Weltteilen fand die junge Macht die Lose schon ver teilt. Aber der Geist der Maschine, der bisher in diesem Land nur langsam zur Macht gekommen war, blühte nun erstaun lich auf.
Das ganze Land und Volk verwandelte sich rasch. Es 263
wurde groß, es wurde reich, es wurde mächtig und ge-fürchtet. Es häufte Reichtum an, und es umgab sich mit einer dreifachen Schutzwehr von Soldaten, Kanonen und Festun gen. Bald kamen bei den Nachbarn, die das junge Wesen beunruhigte, Mißtrauen und Furcht auf, und auch sie began nen Palisaden zu bauen und Kanonen und Kriegsschiff e be reitzustellen.
Dies war jedoch nicht das Schlimmste. Man hatte Geld ge nug, diese ungeheuren Schutzwälle zu bezahlen, und an ei nen Krieg dachte niemand, man rüstete nur so für alle Fälle, weil reiche Leute gern Eisenwände um ihr Geld sehen.
Viel schlimmer war, was innerhalb des jungen Reiches vor sich ging. Dies Volk, das so lang in der Welt halb ver-spottet, halb verehrt worden war, das so viel Geist und so wenig Geld besessen hatte – dies Volk erkannte jetzt, was für eine hüb sche Sache es sei um Geld und Macht. Es baute und sparte, trieb Handel und lieh Geld aus, keiner konnte schnell genug reich werden, und wer eine Müh-le oder Schmiede hatte, mußte jetzt schnell eine Fabrik haben, und wer drei Gesellen gehabt hatte, mußte jetzt zehn oder zwanzig haben, und viele brachten es schnell zu hunderten und tausenden. Und je schneller die vielen Hände und Maschinen arbeiteten, desto schneller häuf-te das Geld sich auf – bei jenen einzelnen, die das Geschick zum Anhäufen hatten. Die vielen, vielen Arbei ter aber waren nicht mehr Gesellen und Mitarbeiter eines Meisters, sondern sanken in Fron und Sklaverei.
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Auch in andern Ländern ging es ähnlich, auch dort wurde aus der Werkstatt die Fabrik, aus dem Meister der Herr scher, aus dem Arbeiter der Sklave. Kein Land der Welt konnte sich diesem Geschick entziehen. Aber das junge Reich hatte das Schicksal, daß dieser neue Geist und Trieb in der Welt mit seiner Entstehung zu-sammenfi el. Es hatte keine alte Zeit hinter sich, keinen alten Reichtum, es lief in diese rasche neue Zeit hinein wie ein ungeduldiges Kind, hatte die Hände voll Arbeit und voll Gold.
Mahner und Warner zwar sagten dem Volk, daß es
auf Abwegen sei. Sie erinnerten an die frühere Zeit, an den stillen heimlichen Ruhm des Landes, an die Sen-dung geistiger Art, die es einst verwaltet, an den steten edlen Geistesstrom von Gedanken, von Musik und Dichtung, mit dem es einst die Welt beschenkt hatte.
Aber dazu lachte man im Glück des jungen Reichtums.
Die Welt war rund und drehte sich, und wenn die Groß-
väter Gedichte gemacht und Philosophie ge schrieben hatten, so war das ja sehr hübsch, aber die Enkel wollten zeigen, daß man hierzulande auch anderes könne und vermöge. Und so hämmerten und kesselten sie in ihren tausend Fabriken neue Maschinen, neue Eisenbahnen, neue Waren, und für alle Fälle auch stets neue Gewehre und Ka nonen. Die Reichen zogen sich vom Volk zurück, die armen Arbeiter sahen sich alleingelassen und dachten auch nicht mehr an ihr Volk, dessen Teil sie waren, sondern sorgten, dachten und strebten auch wieder für 265
sich allein. Und die Reichen und Mächtigen, welche gegen äußere Feinde all die Kanonen und Flinten an-geschaff t hatten, freuten sich über ihre Vorsorge, denn es gab jetzt im Innern Feinde, die viel leicht gefährlicher waren.
Dies alles nahm sein Ende in dem großen Kriege, der jah relang die Welt so furchtbar verwüstete und zwischen dessen Trümmern wir noch stehen, betäubt von seinem Lärm, erbit tert von seinem Unsinn und krank von seinen Blutströmen, die durch all unsere Träume rinnen.
Und der Krieg ging so zu Ende, daß jenes junge
blühende Reich, dessen Söhne mit Begeisterung, ja mit Übermut in die Schlachten gegangen waren,
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