Meistererzählungen
zu-sammenbrach. Es wurde be
siegt, furchtbar besiegt.
Die Sieger aber verlangten, noch ehe von einem Frieden die Rede war, schweren Tribut von dem besiegten Volk. Und es geschah, daß Tage und Tage lang, während das geschlagene Heer zurückfl utete, ihm entgegen aus der Heimat in langen Zügen die Sinnbilder der bisheri gen Macht geführt wurden, um dem siegreichen Feind über liefert zu werden. Maschinen und Geld fl ossen in langem Strom aus dem besiegten Lande hinweg, dem Feinde in die Hand. Währenddessen hatte aber das besiegte Volk im Au genblick der größten Not sich besonnen. Es hatte seine Füh rer und Fürsten fortgejagt und sich selbst für mündig erklärt. Es hatte Räte aus sich selbst gebildet und seinen Willen kundgegeben, 266
aus eigener Kraft und aus eigenem Geist sich in sein Unglück zu fi nden.
Dieses Volk, das unter so schwerer Prüfung mündig ge worden ist, weiß heute noch nicht, wohin sein Weg führt und wer sein Führer und Helfer sein wird. Die Himmlischen aber wissen es, und sie wissen, warum sie über dies Volk und über alle Welt das Leid des Krieges gesandt haben.
Und aus dem Dunkel dieser Tage leuchtet ein Weg, der Weg, den das geschlagene Volk gehen muß.
Es kann nicht wieder Kind werden. Das kann nie-
mand. Es kann nicht einfach seine Kanonen, seine Maschinen und sein Geld hinweggeben und wieder in kleinen friedlichen Städt chen Gedichte machen und Sona-ten spielen. Aber es kann den Weg gehen, den auch der einzelne gehen muß, wenn sein Leben ihn in Fehler und tiefe Qual geführt hat. Es kann sich seines bisherigen Weges erinnern, seiner Herkunft und Kindheit, seines Großwerdens, seines Glanzes und seines Niederganges, und kann auf dem Wege dieses Erinnerns die Kräfte fi nden, die ihm wesentlich und unverlierbar angehö ren. Es muß ›in sich gehen‹, wie die Frommen sagen. Und in sich, zu innerst, wird es unzerstört sein eigenes Wesen fi n den, und dies Wesen wird seinem Schicksal nicht entfl iehen wollen, sondern ja zu ihm sagen und aus seinem wiederge fundenen Besten und Innersten neu beginnen.
Und wenn es so geht, und wenn das niedergedrückte Volk den Weg des Schicksals willig und aufrichtig geht, 267
so wird et was von dem sich erneuern, was einst gewesen ist. Es wird wieder ein steter stiller Strom von ihm ausgehen und in die Welt dringen, und die heut noch seine Feinde sind, werden in der Zukunft diesem stillen Strom von neuem ergriff en lau schen.
(1918)
Einkehr
In meinem Leben ist es jetzt Mittag, ich bin an Vierzig vor bei und ich spüre, wie sich, seit Jahren vorbereitet, neue Ein stellungen, neue Gedanken, neue Auff assungen melden, wie sich das Ganze meines Lebens neu und anders kristallisieren will. Das hat nie einen Anfang gehabt.
Das klang schon vor aus und war schon Ahnung und Möglichkeit, als ich noch Kind war, als ich noch nicht Kind war. Spürbar ist es mir auch schon früh geworden.
Überhaupt, wenn ich heute an meine frühere Jahre denke, so sehen sie anders aus, als ich sie zu sehen gewohnt war. Anders duftet die Zeit der Kindheit, anders klingt die Zeit des Jünglings mir jetzt, als sie mir noch vor zwei, drei Jahren klangen. Und so sehe ich jetzt Ahnun gen und Vordeutungen des Heutigen schon in Ereignissen und Gefühlen sehr früher Jahre. Man wird sagen, ich deute nun eben den neuen Sinn, den ich jetzt meinem Leben zu schreibe, rückwärts in alles Gewesene hinein, konstruiere Geschichte, wende neue Dogmen nach rück-wärts an, belüge mich mit einer neuen Th
eologie.
Aber was liegt denn daran, wenn ich mich belüge, wenn ich Th
eologie oder Geschichtskonstruktion trei-
be? Das Neue bei mir ist ja nicht, daß einer bisherigen Täuschung eine nun mehrige Wahrheit gefolgt wäre. Ich bin weiter von jeder Wahrheit entfernt als jemals. Ich bin ungläubiger gegen jede Wahrheit und gläubiger gegen jede Illusion als jemals.
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Aber ich spüre mich wieder leben, ich bin jünger, fühle Zu kunft, fühle Kräfte und Wirkungsmöglichkeiten, und das al les war jahrelang fortgewesen. Es ist eine Häutung im Gang, ein ausgewachsenes Kleid will abfallen, und was ich jahre lang für den Schmerz des Sterbenmüssens angesehen habe, will nun Schmerz der Neugeburt bedeuten.
Furchtbar sind die Schmerzen des Sterbenmüssens, ich sehe sie hinter mir wie eine lange, schwarze Schlucht des Grauens, durch die ich gegangen bin, Jahre und Jahre gegan gen, allein und hoff nungslos. Noch friert mich tief im Ge danken an sie. Es war eine Hölle, eine kalte
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