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Meistererzählungen

Meistererzählungen

Titel: Meistererzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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war, mich mit Gott, Eltern und Welt freundlich und gefügig zu vertragen. Auch mein Zorn gegen Oskar Weber war ganz und gar verfl ogen. Wenn er gekommen wäre, ich hätte ihn aufs beste aufgenommen.
    Der Gottesdienst begann, ich sang die Choralverse mit, es war das Lied ›Hirte deiner Schafe‹, das wir auch in der Schule auswendig gelernt hatten. Es fi el mir dabei wieder einmal auf, wie ein Liedervers beim Singen, und gar bei dem schleppend langsamen Gesang in der Kirche, ein ganz ande res Gesicht hatte als beim Lesen oder Hersagen. Beim Lesen war so ein Vers ein Ganzes, hatte einen Sinn, bestand aus Sätzen. Beim Singen bestand er nur noch aus Worten, Sätze kamen nicht zustande, Sinn war keiner da, aber dafür gewan nen die Worte, die einzelnen, gesungenen, langhin gedehn ten Worte, ein sonderbar starkes, unabhängiges Leben, ja, oft waren es nur einzelne Silben, etwas an sich ganz Sinnlo ses, die im Gesang selbständig wurden und Gestalt annah men. In dem Vers ›Hirte deiner Schafe, der von keinem Schlafe etwas wissen mag‹ war zum Beispiel heute beim Kir-chengesang gar kein Zusammenhang und Sinn, man
    dachte auch weder an einen Hirten noch an Schafe, man dachte durchaus gar nichts. Aber das war keineswegs langweilig. Kinzelne Worte, namentlich das ›Schla-afe‹, wurden so selt sam voll und schön, man wiegte sich ganz darin, und auch das ›mag‹ tönte geheimnisvoll und schwer, erinnerte an ›Magen‹ und an dunkle, gefühls-314
    reiche, halbbekannte Dinge, die man in sich innen im Leibe hat. Dazu die Orgel!
    Und dann kam der Stadtpfarrer und die Predigt, die stets so unbegreifl ich lang war, und das seltsame Zuhö-
    ren, wobei man oft lange Zeit nur den Ton der redenden Stimme glockenhaft schweben hörte, dann wieder einzelne Worte scharf und deutlich samt ihrem Sinn vernahm und ihnen zu folgen bemüht war, solange es ging. Wenn ich nur im Chor hätte sitzen dürfen, statt unter all den Männern auf der Empore. Im Chor, wo ich bei Kirchenkonzerten schon gesessen war, da saß man tief in schweren, isolierten Stühlen, deren jeder ein kleines festes Gebäude war, und über sich hatte man ein son derbar reizvolles, vielfältiges, netzartiges Gewölbe, und hoch an der Wand war die Bergpredigt in sanften Farben gemalt, und das blaue und rote Gewand des Heilands auf dem blaß blauen Himmel war so zart und be-glückend anzusehen.
    Manchmal knackte das Kirchengestühl, gegen das ich eine tiefe Abneigung hegte, weil es mit einer gelben, öden Lack farbe gestrichen war, an der man immer ein wenig kleben blieb. Manchmal summte eine Fliege auf und gegen eines der Fenster, in deren Spitzbogen blaurote Blumen und grüne Sterne gemalt waren. Und unversehens war die Predigt zu Ende, und ich streckte mich vor, um den Pfarrer in seinen en gen, dunklen Treppenschlauch verschwinden zu sehen. Man sang wieder, aufatmend und sehr laut, und man stand auf und strömte hinaus; 315
    ich warf den mitgebrachten Fünfer in die Opferbüchse, deren blecherner Klang so schlecht in die Feierlichkeit paßte, und ließ mich vom Menschenstrom mit ins Portal ziehen und ins Freie treiben.
    Jetzt kam die schönste Zeit des Sonntags, die zwei Stun den zwischen Kirche und Mittagessen. Da hatte man seine Pfl icht getan, man war im langen Sitzen auf Bewegung, auf Spiele oder Gänge begierig geworden, oder auf ein Buch, und war völlig frei bis zum Mittag, wo es meistens etwas Gu tes gab. Zufrieden schlenderte ich nach Hause, angefüllt mit freundlichen Gedanken und Gesinnungen. Die Welt war in Ordnung, es ließ sich in ihr leben. Friedfertig trabte ich durch Flur und Treppe hinauf.
    In meinem Stübchen schien Sonne. Ich sah nach meinen Raupenkästen, die ich gestern vernachlässigt hatte, fand ein paar neue Puppen, gab den Pfl anzen frisches Wasser.
    Da ging die Tür auf.
    Ich achtete nicht gleich darauf. Nach einer Minute wurde die Stille mir sonderbar; ich drehte mich um. Da stand mein Vater. Er war blaß und sah gequält aus. Der Gruß blieb mir im Halse stecken. Ich sah: er wußte! Er war da. Das Gericht begann. Nichts war gut geworden, nichts abgebüßt, nichts vergessen! Die Sonne wurde bleich, und der Sonntagmorgen sank welk dahin.
    Aus allen Himmeln gerissen starrte ich dem Vater entge gen. Ich haßte ihn, warum war er nicht gestern 316
    gekommen? Jetzt war ich auf nichts vorbereitet, hatte nichts bereit, nicht einmal Reue und Schuldgefühl.
    – Und wozu brauchte er oben in seiner Kommode Feigen zu haben?
    Er ging zu meinem

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