Meistererzählungen
Bücherschrank, griff hinter die Bücher und zog einige Feigen hervor. Es waren wenige mehr da. Dazu sah er mich an, mit stummer, peinlicher Frage. Ich konnte nichts sagen. Leid und Trotz würgten mich.
»Was ist denn?« brachte ich dann heraus.
»Woher hast du diese Feigen?« fragte er, mit einer beherrschten, leisen Stimme, die mir bitter verhaßt war.
Ich begann sofort zu reden. Zu lügen. Ich erzählte, daß ich die Feigen bei einem Konditor gekauft hätte, es sei ein gan zer Kranz gewesen. Woher das Geld dazu kam? Das Geld kam aus einer Sparkasse, die ich gemeinsam mit einem Freunde hatte. Da hatten wir beide alles kleine Geld hinein getan, das wir je und je bekamen. Übrigens – hier war die Kasse. Ich holte die Schachtel mit dem Schlitz hervor. Jetzt war bloß noch ein Zehner darin, eben weil wir gestern die Feigen gekauft hatten.
Mein Vater hörte zu, mit einem stillen, beherrschten Ge sicht, dem ich nichts glaubte.
»Wieviel haben denn die Feigen gekostet?« fragte er mit der zu leisen Stimme.
»Eine Mark und sechzig.«
»Und wo hast du sie gekauft?«
»Beim Konditor.«
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»Bei welchem?«
»Bei Haager.«
Es gab eine Pause. Ich hielt die Geldschachtel noch in frie renden Fingern. Alles an mir war kalt und fror.
Und nun fragte er, mit einer Drohung in der Stimme:
»Ist das wahr?«
Ich redete wieder rasch. Ja, natürlich war es wahr, und mein Freund Weber war im Laden gewesen, ich hatte ihn nur begleitet. Das Geld hatte hauptsächlich ihm, dem Weber, ge hört, von mir war nur wenig dabei.
»Nimm deine Mütze«, sagte mein Vater, »wir wol-
len mit einander zum Konditor Haager gehen. Er wird ja wissen, ob es wahr ist.«
Ich versuchte zu lächeln. Nun ging mir die Kälte bis in Herz und Magen. Ich ging voran und nahm im Korridor meine blaue Mütze.
Der Vater öff nete die Glastür, auch er hatte seinen Hut genommen.
»Noch einen Augenblick!« sagte ich, »ich muß schnell hin ausgehen.«
Er nickte. Ich ging auf den Abtritt, schloß zu, war allein, war noch einen Augenblick gesichert. Oh, wenn ich jetzt ge storben wäre!
Ich blieb eine Minute, blieb zwei. Es half nichts. Man starb nicht. Es galt standzuhalten. Ich schloß auf und kam. Wir gingen die Treppe hinunter.
Als wir eben durchs Haustor gingen, fi el mir etwas 318
Gutes ein, und ich sagte schnell: »Aber heut ist ja Sonntag, da hat der Haager gar nicht off en.«
Das war eine Hoff nung, zwei Sekunden lang. Mein Vater sagte gelassen: »Dann gehen wir zu ihm in die Wohnung. Komm.«
Wir gingen. Ich schob meine Mütze gerade, steckte eine Hand in die Tasche und versuchte neben ihm da-herzugehen, als sei nichts Besonderes los. Obwohl ich wußte, daß alle Leute mir ansahen, ich sei ein abgeführter Verbrecher, ver suchte ich doch mit tausend Künsten, es zu verheimlichen. Ich bemühte mich, einfach und harmlos zu atmen; es brauchte niemand zu sehen, wie es mir die Brust zusammen zog. Ich war bestrebt, ein argloses Gesicht zu machen, Selbstverständlichkeit und Sicherheit zu heucheln. Ich zog einen Strumpf hoch, ohne daß er es nötig hatte, und lächelte, während ich wußte, daß dies Lächeln furchtbar dumm und künstlich aussehe. In mir innen, in Kehle und Eingeweiden, saß der Teufel und würgte mich. Wir kamen am Gasthaus vorüber, beim Hufschmied, beim Lohnkutscher, bei der Ei senbahnbrücke. Dort drüben hatte ich gestern abend mit Weber gekämpft. Tat nicht der Riß beim Auge noch weh? Mein Gott! Mein Gott!
Willenlos ging ich weiter, unter Krämpfen um mei-ne Hal tung bemüht. An der Adlerscheuer vorbei, die Bahnhofstraße hinaus. Wie war die Straße gestern noch gut und harmlos ge wesen! Nicht denken! Weiter!
Weiter!
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Wir waren ganz nahe bei Haagers Haus. Ich hatte in die sen paar Minuten einige hundertmal die Szene voraus erlebt, die mich dort erwartete. Nun waren wir da.
Nun kam es.
Aber es war mir unmöglich, das auszuhalten. Ich blieb ste hen.
»Nun? Was ist?« fragte mein Vater.
»Ich gehe nicht hinein«, sagte ich leise.
Er sah zu mir herab. Er hatte es ja gewußt, von Anfang an. Warum hatte ich ihm das alles vorgespielt und mir so viel Mühe gegeben? Es hatte ja keinen Sinn.
»Hast du die Feigen nicht bei Haager gekauft?« fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
»Ach so«, sagte er mit scheinbarer Ruhe. »Dann können wir ja wieder nach Hause gehen.«
Er benahm sich anständig, er schonte mich auf der Straße, vor den Leuten. Es waren viele Leute unterwegs, jeden Au genblick wurde mein Vater gegrüßt.
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