Meisterin der Runen
morgenrot, als sie auf die Bettstatt sanken, Richards Arme sie umfassten und sie erschöpft die Augen schlossen.
Einen Monat später betrat Gunnora das Kloster. Sie stellte fest, dass es kalt, jedoch sauber war. Kaum zu glauben, dass der christliche Gott an einem solchen Ort wohnte. Die Götter, die sie kannte, mochten es laut und bunt und warm. In Walhall wurden Elchfleisch und Met aufgetischt, damit sich die Krieger mit Odin satt essen und betrinken konnten. Hier begnügte man sich mit Brot, und manchmal gab es wohl nicht einmal das. Die Nonnen, allesamt schwarz gekleidet als Zeichen ihrer Enthaltsamkeit, glichen dürren Schatten.
Ob sie jemals Elchfleisch auch nur gekostet hatten?
Nun, Elche gab es hierzulande nicht, und der Gott der Christen wohnte genau genommen nicht in den Klöstern, sondern im Himmel. Gunnora hatte den Bischof von Rouen nicht danach befragt, als er sie vor der Taufe im christlichen Glauben unterwiesen hatte, aber sie war sich dennoch sicher, dass es auch in einem Reich hinter dem weiten Blau kalt und sauber war, vor allem aber einsam.
Weit und breit war nichts von Alruna zu sehen. Die Schwester Pförtnerin, auf die sie forsch zugetreten war, hatte sie verschreckt angesehen und sie wortlos ins Refektorium gebeten. Dort wartete Gunnora nun, fröstelte und rieb sich ihre Hände. Wie sie Richard versprochen hatte, hatte sie den Besuch aufgeschoben, bis die Eiszapfen geschmolzen und die Schneedecke brüchig geworden war, aber im Gemäuer hockte der Frost – und nicht nur dieser. In den Ecken sah Gunnora Schimmel und Spinnweben, ein Beweis, dass das Kloster doch kein so sauberer Ort wie gedacht war.
Baldur, der schönste aller Götter, fiel ihr ein, der in Breitglanz lebte, einem sauberen Palast. Ob selbst dort Spinnweben in verborgenen Ecken wucherten? Und ob dort Elchfleisch aufgetischt wurde wie in Walhall?
Gunnora seufzte und wandte sich einer drängenderen Frage zu. Was soll ich Alruna nur sagen? Auf meine Vergebung wartet sie nicht, und wer wüsste besser als ich, dass mancher Kummer so tief geht, dass keine Worte des Trostes ihn erreichen.
Im Refektorium war zu wenig Raum, als dass sie länger vor dem Eingeständnis davonlaufen konnte, dass sie nicht Alrunas wegen hergekommen war, sondern um Richard etwas zu beweisen – vor allem aber sich selbst. Keine Untat, das wollte sie aller Welt bekunden, war so schlimm, dass man sie nicht verzeihen konnte. Von keiner Untat blieb ein Mensch so sehr besudelt, dass er nicht wieder sauber werden konnte. Sie selbst hatte längst den Schmutz abgewaschen, den Agnarr an ihr bei seiner Schändung hinterlassen hatte. Nur in den verborgensten Winkeln der Seele, in die niemand sehen konnte, hockte noch etwas Schlimmes: ein Geheimnis, eine Lüge, von der niemand wissen durfte …
»Was macht Ihr hier?«
Sie blickte auf, sah in das Gesicht eines Mannes und war verwirrt. Das Kloster durfte doch nur von Frauen betreten werden und von Priestern, doch der da vor ihr stand, trug nicht deren Kleidung. Verspätet fiel ihr ein, dass ein Laie die Klausur betreten durfte, der Provisor, der die Almosen im Kloster abgab – unter anderem jene, die vom gräflichen Hof stammten. Der Mann kam ihr vage bekannt vor.
»Ich warte auf Alruna, wisst Ihr, wo sie ist?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber fragt im Armenspital nach ihr, dort werden die kranken Bettler versorgt.«
»Alruna ist meines Wissens nicht des Heilens kundig.«
»Ja, aber in der Fastenzeit werden den Armen hier die Füße gewaschen. Es ist eine Demutsübung für die Nonnen.«
Wenig später betrat Gunnora das Hospital, wo sich schwitzende, stinkende, verschorfte, eiternde Leiber zusammendrängten. Dass man ihnen die Füße wusch, verhornt und schmutzig diese, ließen sie gleichgültig über sich ergehen, denn sie wussten, dass sie hinterher zu essen bekamen.
Welch ein verlogener Ort!, ging es Gunnora durch den Sinn.
Die Nonnen kannten vermeintlich keinen Ekel, obwohl ihre Gesichter vor Abscheu verzerrt waren, und die Bettler taten so, als wäre Reinlichkeit wichtiger als das tägliche Brot, nur um eben dieses zu bekommen.
Alsbald erstarben ihre Gedanken. Sie sah Alruna, schmaler, blasser als zuvor – und untätig. Vielleicht hatte sie an diesem Tag schon genügend Füße gewaschen, um ihre Demut zu beweisen, jetzt tat sie es zumindest nicht, sondern starrte blicklos vor sich hin. Keiner wagte, ihr zu nahe zu kommen, weder die Armen noch die Nonnen. Nur Gunnora trat beherzt auf sie zu, und der Blick
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