Meisterin der Runen
sie.
Richards Kiefer mahlten. »Warum, zum Teufel, verteidigst ausgerechnet du sie?«
Gunnora zögerte. Sie war sich nicht sicher. Als sie ihr fieberndes Kind in den Armen gehalten hatte und vor Angst fast verrückt geworden wäre, hätte sie ihr Leben gegeben, um das des kleinen Richard zu retten, und am liebsten jeden getötet, der es bedrohte. Wäre Alruna ihr in diesem Augenblick vor Augen getreten, hätte ihr die Macht sämtlicher Runen nicht gereicht, sie zu verfluchen und ihr Schaden zuzufügen. Doch als sich der Zustand des Säuglings gebessert hatte und er beruhigt an der Brust der Amme eingeschlafen war, hatte sich zu ihrer Erleichterung ein Gefühl von Liebe gesellt, das noch tiefer, stärker und besitzergreifender war als das im Augenblick der Geburt. Nach dem leidvollen Geschrei war die Stille eine solche Labsal, dass kein Platz mehr für Angst und Hass blieb, nur unendliche Dankbarkeit, die sie milde stimmte. Und es gab noch einen anderen Grund, Alruna zu vergeben.
»Du willst ein gerechter Herrscher sein, ein guter und weiser«, sage sie leise. »Doch dafür musst du in die Herzen der Menschen sehen. Du musst ahnen, was sie antreibt, und das gilt nicht nur für Staatsmänner und Mönche, sondern auch für die Frauen. Für Alruna warst du blind – und nicht zuletzt dafür hat sie sich gerächt.«
Seine Miene war immer noch wutverzerrt, doch er klang kleinlauter, als er bekannte: »Ich war nicht blind, ich weiß doch, was sie für mich fühlt … und dass ich einen Fehler gemacht habe.« Er schluckte. »Damals, als du … fort warst, habe ich eine Nacht bei ihr gelegen. Ich weiß, ich hätte mich nie dazu hinreißen lassen dürfen, was gäbe ich, könnte ich es ungeschehen machen! Doch ganz gleich, was ich ihr angetan habe, es gibt ihr kein Recht …«
Gunnora hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Seine Enthüllung kam nicht überraschend, aber erzürnte sie gleichwohl. Die Tatsache, dass er bei einer anderen gelegen hatte, konnte sie verzeihen und vergessen. Doch als sie sich Alrunas vergeblichen Kampf um seine Zuneigung vor Augen hielt, fühlte sie sich an die eigene Ohnmacht erinnert.
»Es stimmt«, nun war es ihre Stimme, die zischte, »sie hatte kein Recht, unserem Kind zu schaden. Du hingegen hast kein Recht, Frauen zu benutzen, als wären sie ohne Willen und Würde.«
Richard starrte Gunnora verblüfft an. »Aber das habe ich doch nie getan! Alruna ist freiwillig zu mir gekommen. Und ich bin kein roher Mann. Ich hab nie ein Weib geschlagen, nie einem Gewalt angetan.«
Sie trotzte seinem Blick. Dass er vermeinte, ehrlich zu sein – zu sich selbst ebenso wie zu ihr –, stimmte sie nicht gnädiger.
»Doch«, sagte sie finster, »doch, das hast du getan. Alruna mag dich verführt haben, aber mir hast du sehr wohl Gewalt angetan, damals, in der ersten Nacht.«
Er lachte nervös auf und leckte sich über die Lippen. »Was für ein Unsinn! Du hast dich nicht gewehrt, du bist freiwillig zu mir gekommen, und du hast dich in meinen Armen wohlgefühlt!«
Sie erwiderte sein Lachen ebenso trocken wie kalt. »Du hast geglaubt, ich wäre Seinfreda! Als ich bereits unter dir lag, hast du den Unterschied immer noch nicht bemerkt. Und als du am Morgen neben einer Fremden erwachtest, hat es dich nicht weiter gekümmert. Sag Richard, hast du auch nur einen Augenblick darüber nachgedacht, warum meine Schwester und ich die Rollen tauschten?«
Verständnislos starrte er sie an. Der wohlbekannte knabenhafte Ausdruck stand in seinen Zügen, der sie manchmal gerührt hatte, sie nun aber nur noch mehr reizte.
»Seinfreda war und ist eine verheiratete Frau!«, schrie sie, als ihm nichts zu sagen einfiel.
Richard lachte kein zweites Mal, sondern runzelte die Stirn. »Sie hat doch …«, setzte er hilflos an.
»Sie hat dein Lächeln erwidert«, gab Gunnora eisig zurück, »aber dachtest du wirklich, es ist von Herzen gekommen? Die Menschen gehorchen dir nicht, weil du meist freundlich bist, verständnisvoll und gutlaunig, weil dein Lachen hell ist und deine Statur stattlich. Sie gehorchen dir, weil du die Macht hast! Von allen Frauen war Alruna wohl die einzige, die dich liebte, nicht den Grafen der Normandie. Wärest du ein Bauer, kein Weib hätte sich je um deine Gunst bemüht. Samo hätte dir die Tür gewiesen, Seinfreda dir die Schüssel Eintopf ins Gesicht geschleudert, anstatt sich lächelnd zu dir an den Tisch zu hocken, und hättest du mich zu berühren versucht, ich hätte geschrien und um
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