Meisterin der Runen
mich geschlagen, wie jede Frau es täte, der ein Mann nichts anderes bieten kann als Entehrung.«
Widerstreitende Gefühle zerrissen seine Züge, Trotz und schlechtes Gewissen, Unbehagen und Empörung.
»Du hast mich gehasst dafür, nicht wahr?«, fragte er lauernd. »Beinahe genug, um mich zu töten. Hasst du mich immer noch? Ist es weiterhin nur meine Macht, die dich lockt?«
Die Wut erkaltete. »Ach, Richard«, murmelte sie. »Ich dachte, du wüsstest, dass du mir vertrauen kannst. Ich dachte, du hättest mir vergeben – genauso wie ich dir. Warum kannst du nicht auch Alruna vergeben? Warum nicht sehen, dass noch größer als ihr Hass oder ihre Liebe die Verzweiflung war?«
Er wandte sich ab. »Verlang das nicht von mir!«
»Ich verlange es nicht, ich bitte dich darum. Ich weiß, ich bin nicht befugt, dir zu befehlen.«
»Weil ich der Graf der Normandie bin und du nichts weiter als ein Weib?«, fuhr er auf. »O nein, es stimmt nicht, dass ich alle Macht habe und du keine! Warum habe ich dich wieder und wieder zu mir geholt? Gewiss nicht nur, weil es mich nach deinem Körper gelüstete, sondern weil du die Erste warst, vor der ich mich nicht zu verstellen brauchte.«
Er begann wieder auf und ab zu gehen, stampfte bei jedem Schritt heftig auf, als gelte es, den Worten dadurch Gewicht zu verleihen.
»Meine Macht hat einen Preis. Mich ihrer würdig zu erweisen bedeutet, stark zu sein – immerzu. Angst und Unbehagen sind dem verboten, den man den Furchtlosen nennt. Was ich fühle und denke, darf ich niemandem zeigen. Du magst ja recht haben, dass ich blind für Alrunas Nöte war, blind für die deiner Schwester, blind für deine. Aber vergiss nicht, ich muss auch für mich selbst blind sein, seit ich denken kann.« Er machte eine kurze Pause. »Mein Vater«, fuhr er leise fort, »mein Vater war kein Meister der Verstellung. Er war unglücklich, weil er Graf der Normandie war, obwohl er viel lieber als Mönch dem Allmächtigen gedient hätte, und hat diesen Hader stets offen gezeigt. Und siehe, was aus ihm geworden ist: Er ist von seinen Feinden in den Hinterhalt gelockt und kaltblütig ermordet worden! Man hat zuvor über ihn gespottet und danach erst recht.« Richard schluckte schwer. »Meine Mutter Sprota war ganz anders als er. Obwohl sie nur seine Konkubine war, war sie viel stärker und viel beherrschter. Sie hat auch dann noch gelächelt, wenn sie vor Gram gebeugt war, wenn sie verlacht oder, noch schlimmer, missachtet wurde, sogar wenn wir getrennt wurden – und das war ohne Zweifel ihre schlimmste Prüfung. Von meinem Vater habe ich gelernt, dass man stirbt, wenn man Schwäche zeigt. Von meiner Mutter weiß ich, wie man lächelt und dass man überlebt, solange man nur im Geheimen leidet.«
Als Richard endete, klang er so heiser, als hätte er geschrien, obwohl er immer leiser gesprochen hatte. Er wirkte fahl und müde, und die Gefühle, die er doch eigentlich zu verbergen gelernt hatte, standen ihm offen ins Gesicht geschrieben – vor allem die Sehnsucht, dass sie ihn verstand, nachdem er ihr mehr anvertraut hatte als je einem anderen Menschen.
Gunnora trat auf ihn zu, umarmte ihn, strich über sein Haar und sein Gesicht, küsste seine Wangen und seine Lippen, vergab ihm erst jetzt ganz und gar für seine Blindheit in der ersten Nacht und am nächsten Morgen.
Als sie sich von ihm löste, schüttelte er kaum merklich den Kopf. »Mathilda und Arvid haben beschlossen, Alruna ins Kloster zu schicken, und ich werde sie gewiss nicht davon abbringen. Selbst ihre eigenen Eltern sind erschüttert, was aus ihr geworden ist. Glaub mir, wenn es um mein Leben ginge – ich würde ihr leichtfertig verzeihen. Aber ich will sie nicht in die Nähe meines Kindes lassen. Der kleine Richard wird dereinst Graf der Normandie sein. Vielleicht kann ich ihm nicht nur meine Macht, sondern auch Frieden vererben. Vielleicht muss er sich nie verstellen und um den Ruf kämpfen, furchtlos zu sein.«
Gunnora war nicht überrascht über Richards Sturheit. »Ich werde nicht versuchen, dich umzustimmen. Aber ich werde mir nicht verbieten lassen, sie zu besuchen.«
»Warte einige Wochen, bis es Frühling wird. Sie hat unseren Sohn frieren lassen, sie soll nun selbst die Kälte kosten.«
Sie blickten sich an und fochten schweigend einen Kampf aus. Am Ende beugte sie sich ihm nicht minder als er ihr.
»So sei es«, murmelte sie. »Und jetzt solltest du schlafen.«
»Bleib bei mir.«
Draußen färbte sich der Winterhimmel
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