Meisterin der Runen
kreuzten den Weg, aber versteckten sich alsbald im Gebüsch, Eichhörnchen huschten über die Äste.
Als sie das letzte Mal im Wald gewesen war, hatte sie kein Auge für all das gehabt, nur für Richard.
»Warum?«, fragte sie und merkte zu spät, dass sie es laut getan hatte.
»Warum was?«, gab Arfast zurück.
Sie zuckte die Schultern. Die Säulen der Welt sind auf dieser Frage gebaut, dachte sie. Warum leben wir, warum sterben wir, wie werden wir glücklich und noch wichtiger – wie leben wir weiter, wenn wir nicht glücklich sind? Und weil es nicht eine Antwort darauf gibt, sondern derer viele, steht die Säule nicht auf festem Grund. Die Welt schwankt, und die Menschen stolperen hin und her.
»Warum verachtest du mich nicht?«, fragte sie schließlich.
Er dachte eine Weile nach. »Du bist nicht böse«, erklärte er schlicht.
Nein, dachte sie, du, Arfast, bist nicht böse, und deswegen kannst du das Böse in mir nicht sehen, nicht die Kälte, nicht die Dunkelheit.
»Ich will nicht, dass du den letzten Teil des Weges mit mir gehst«, erklärte sie.
»Aber ich kann doch nicht …«
»Doch! Lass mich allein weiterreiten, sobald wir kurz vor dem Ziel sind. Ich bin Gunnora dankbar, dass sie mir vorschlug, bei ihrer Schwester zu leben. Aber sie hat mir nichts vorgemacht: Es ist ein einfaches Leben, das mich erwartet, ein überaus ärmliches und einsames. Vielleicht bin ich stark genug, es zu ertragen, und irgendwann auch stolz darauf, doch glücklich werde ich im Wald nicht werden. Wenn du an mich denkst, so sollst du dich an eine edel gekleidete Frau erinnern, deren Hände nicht für harte Arbeit gemacht sind, nur zum Weben. Eine Frau schließlich auch, die die Sehnsucht nach Glück erstrahlen und die die Verbitterung nicht verhärmt und hässlich aussehen lässt.«
Er ließ nicht erkennen, ob er ihre Bitte verstehen konnte oder gar guthieß, aber er nickte.
»Für mich bist du schön, ganz gleich, was du trägst und tust und fühlst.«
Alruna sog tief den Atem ein. So also riecht Einsamkeit, dachte sie, nach feuchter Rinde und würziger Erde und sprießenden Blättern, ein wenig modrig und ein wenig süß. Plötzlich war sie sich trotz aller Skepsis sicher: In der Gesellschaft von Geschöpfen, die gelernt hatten, auch im Schatten zu gedeihen, würde sie neue Kraft finden.
F ÉCAMP
996
Agnes’ Verwirrung wuchs. Es waren der Enthüllungen zu viele, um sie fassen zu können. Die gefährlichen Runen, die beiden Geheimnisse, die die Gräfin hütete, die entsetzte Wevia …
Und jetzt behauptete die Mutter auch noch, große Schuld auf sich geladen zu haben! Schwer vorstellbar, dass die tugendhafte Gräfin gesündigt hatte – unmöglich schier, dass sich die Mutter eine Schwäche erlaubt hatte, so beherrscht wie sie sich immer zeigte. Und doch, dem Bekenntnis folgten weitere Worte, zu bruchstückhaft, um sie zu verstehen.
»Ich habe mich hinreißen lassen … Gott sei Dank ist es nicht zum Äußersten gekommen … ich kann es mir bis heute nicht verzeihen … Vor allem nicht, dass ich selbst dann noch …«
Sie brach ab.
Agnes sog scharf die Luft ein. So gern hätte sie nachgefragt, was diese Worte bedeuten, aber sie zu wiederholen erschien ihr wie ein Sakrileg. Sie konnte nur hoffen, dass die Mutter ihr die Wahrheit freiwillig anvertraute. Wieder ging ihr Blick in weite Ferne und hing Erinnerungen nach, dann starrte sie so versonnen auf die Schriften, als hätte sie die Gegenwart der Tochter vergessen.
»Was willst du nun tun?«, fragte Agnes ungeduldig. »Die Schriften vernichten? Und was ist mit den Mönchen? So schnell werden sie von ihrem Trachten, der Gräfin zu schaden, nicht ablassen.«
»Das fürchte ich auch.«
Die Mutter seufzte, und ihr Blick kehrte wieder in die Gegenwart zurück. Sie rollte das Schriftstück zusammen und barg es an der Brust.
»Hier wird es niemand zu suchen wagen, schon gar kein Mann Gottes«, sagte sie, und ihre Lippen verzogen sich zur Andeutung eines Grinsens. »Die Gräfin soll später selbst entscheiden, was sie damit zu tun gedenkt. Und was die Mönche anbelangt, so werde ich mit Dudo, dem Kaplan und Kanzler, sprechen. So nahe wie er der Gräfin steht, weiß er zumindest um die … eine Sache und kann sie aus der Welt schaffen.«
»Und wenn die beiden Schaden anrichten, noch ehe wir Gelegenheit haben, mit Dudo zu sprechen?«
»Nun, in der Tat sollten wir nicht länger warten und im Gemach der Gräfin nach dem Rechten sehen.«
Agnes folgte ihrer Mutter
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