Meisterin der Runen
sondern auch wenn man tötet. Ist er deshalb weniger schön? Und weniger kostbar?«
Alruna musterte sie eine Weile. Ihr Blick war nicht mehr feindselig, aber dennoch hart und kalt. Sie mochte es ertragen, dass Gunnora Richard erkannte, sich jedoch nicht ins eigene Herz schauen lassen.
»Du hast mir immer noch nicht gesagt, was du hier willst«, sagte sie kühl.
Gunnora atmete tief ein. »Ich glaube nicht, dass das Kloster der rechte Ort für dich ist. Du hast mir vorgeworfen, keine Christin zu sein, doch ich denke: Auch du bist viel zu stark und zu lebendig, um den Rest deiner Tage Gott zu dienen.«
»Aber wohin sonst soll ich gehen? Ich kann nicht an den Hof zurückkehren.« Erstmals klang Verzweiflung durch ihre Stimme.
»Noch nicht. Glaub mir, wenn etwas Zeit vergangen ist, wird Richard sich versöhnlich zeigen. Bis dahin brauchst du einen Ort der Ruhe und der Einsamkeit, auf dass du wieder zu dir kommst. Und ich kenne einen solchen. Gewiss, das Leben dort ist noch einfacher, gar ärmlicher als hier. Du wirst die Kälte spüren, du wirst manchmal Hunger leiden, du wirst raue Kleidung tragen, die niemals richtig sauber ist. Aber zumindest musst du niemandem vorspielen, dass dein Herz rein, deine Liebe zu Gott groß und deine Sorge um die Armen aufrichtig ist. Du kannst dort sein, wer du bist, und bleiben, solange du willst.«
Alruna wandte sich ab, offenbar, um nicht zeigen zu müssen, wie ihr Kinn erbebte. »Du bist also tatsächlich gekommen, um mir zu helfen – nicht um dich an meinem Elend zu laben«, flüsterte sie erstickt.
»Du bist so etwas wie Richards Schwester. Ich wäre jedem dankbar, der meinen Schwestern beisteht, ganz gleich, was sie angerichtet haben, und ich bin sicher, dass Richard mir dereinst dafür dankbar sein wird. Er wird dich wieder als Schwester betrachten.«
Alruna schwieg lange. Gunnora sah, wie das Beben auf ihre Schultern überging, und kurz wurde der Drang übermächtig, sie zu halten, zu trösten. Doch sie hielt sich fern. Als sich Alruna ihr endlich wieder zuwandte, war ihr Gesicht ausdruckslos.
»Du liebst deine Schwestern sehr, nicht wahr?«
Gunnora nickte.
»Und das bedeutet wiederum, dass du lieben kannst. Eines Tages auch Richard, vielleicht liebst du ihn sogar schon jetzt.«
»Mag sein, aber meine Liebe wird nie so stark sein wie deine. Und nie so rein, wie sie es war, als Enttäuschung und Hass sie noch nicht beschmutzten.«
Alruna starrte zu Boden, als wäre ihr die Liebe entglitten und als läge der kostbare Schatz nun dort. Eben noch hatte sie ihn gierig für sich beansprucht, doch dass Gunnora ihr gewährte, ihren Teil an sich zu raffen, schien sie großzügig genug zu machen, darauf zu verzichten.
»Wenn du lernen kannst, ihn zu lieben, dann kann ich vielleicht lernen, ihn nicht zu lieben. Und was die Reinheit der Liebe anbelangt … die Tischgläser bei Hofe, die der Glasermeister aus alten Fenstern anfertigt, weil er nicht weiß, wie man ganz neues macht, sind niemals durchsichtig, sondern von schmutzigem Gelb. Kann man darum kein klares, frisches Wasser daraus trinken? Gar köstlichen, süßen, kräftigen Wein? Natürlich kann man! Und natürlich soll man!«
Gunnora sah Alruna aufmerksam an. »Wenn du uns als Schale siehst und die Liebe als etwas, das die trockenen Lippen eines Dürstenden benetzt, sie also bedeutet, dass man dem anderen gibt, was er braucht, liebe ich Richard tatsächlich.«
»Ich aber«, sagte Alruna, »sollte eine leere Schale werden, und wo vermag ich das besser als an einem leeren Ort, leer an Menschen, leer an Reichtum. Wohin also soll ich gehen?«
Arfast begleitete Alruna, und auch wenn sie es nicht offen zeigte, war sie unendlich dankbar: dafür, dass sie nicht in der Gesellschaft von Fremden Rouen verlassen, durch das Land und immer tiefer in den Wald hineinreiten musste. Und noch viel mehr dafür, dass in seiner Miene kein Vorwurf zu lesen war – weder, weil sie dem kleinen Richard nach dem Leben getrachtet hatte, noch, weil sie ihn seit Jahren beharrlich zurückwies. Nur Mitleid und Güte las sie in seinen Zügen – die Gefühle von einem, der die Tiefe scheut und folglich vor dem dunklen Morast der Seele bewahrt blieb.
Sie wollte auch selbst nicht darin wühlen, war schweigsam und genoss es, dass er sie nicht zum Reden drängte.
Der Wald war aus dem Winterschlaf erwacht, doch stand er noch nicht in voller Pracht. Das Grün war noch müde, der Boden noch kalt, die Tiere noch verängstigt. Vögel stoben auf, Füchse
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