Meisterin der Runen
Neffe, der fränkische König Lothar, sie für sich gefordert. Vielleicht erreicht Bruno, dass man sie dreiteilt und folglich jeder Gewinn daraus zieht.«
Es war nichts Ungewöhnliches, dass Gottesmänner Frieden stifteten und zugleich den Vorteil ihrer Verwandten im Blick hatten, doch Brunos teuflisches Lachen, das sie in ihrem Traum gehört hatte, tönte immer noch in Alruna nach.
»Lieber Himmel, Alruna, deine Zähne klappern! Kleide dich an, oder besser: Geh zurück ins Bett und schlaf noch ein wenig.«
Sie dachte nicht daran, in ihre Schlafkammer zurückzukehren, aber wusste: Ankleiden musste sie sich, wenn sie den Plan umsetzen wollte, der jäh in ihr reifte, und Hilfe brauchte sie dafür auch – Hilfe, die ihr der Vater nicht würde geben können noch wollen.
Wortlos stürmte sie hinaus in den Hof.
Auch dort standen – noch zu schlaftrunken und gähnend, um sie anzüglich zu mustern – Wachen. Alruna stürmte auf einen der Männer zu.
»Arfast – du weißt bestimmt, wo Arfast ist! Hol ihn her, sag ihm, dass ich ihn sprechen muss!«
Der Mann rührte sich erst gar nicht und dann nur langsam, aber schließlich trabte er doch davon. Alruna hatte keine Zeit, sich zu vergewissern, dass er ihrer Bitte folgte, sondern lief hinein, um sich anzukleiden.
Der freundliche, arglose Arfast musste ihr einfach helfen! Und sie mussten schnell genug reiten, um Richard rechtzeitig einzuholen!
Falls es ihnen nicht gelang, dessen war sie gewiss, würde Richard sterben.
F ÉCAMP
996
Agnes wusste, dass sie etwas tun musste, hatte aber keine Ahnung, was. Ihrer ersten Regung, einfach in den Raum zu treten und die beiden Mönche zur Rede zu stellen, gab sie nicht nach. Sie würde doch nichts anderes erreichen, als dass diese gewarnt wären. Von ihrem Ziel – den künftigen Grafen seines Landes zu berauben – würde ein zehnjähriges Mädchen sie kaum abhalten.
Nein, sie musste einen besseren Plan fassen. Doch wie sie es auch wendete, ihre Gedanken liefen im Kreis, schienen übereinanderzustolpern, kreisten weniger um die Frage, wie sie eingreifen sollte, als vielmehr darüber, warum sie überhaupt in diese Lage geraten war.
Gütiger Himmel, was stand bloß in den Schriften, nach denen die Mönche stöberten? Was verrieten sie über die Vergangenheit der Gräfin, das so viel Gefahr verhieß? Welches Geheimnis, das ihre Welt zerstören könnte, hütete diese?
Seit Agnes denken konnte, hatte sie immer ein wenig Angst vor der Gräfin gehabt. Nicht, dass diese jemals bösartig zu ihr gewesen wäre, noch nicht einmal besonders streng und kalt, und dennoch: Stets hatte man ihr eingebläut, dass die Gräfin allen Frauen zum Vorbild gereichte, und mittlerweile konnte Agnes unmöglich einen Menschen aus Fleisch und Blut mit Fehlern und Schwächen in ihr sehen.
Sie zu respektieren war leicht, sie zu mögen fühlte sich hingegen verboten an. Agnes konnte sich nicht erinnern, dass die Gräfin ihr jemals liebevoll über den Kopf gestrichen hatte wie ihre Großmutter, und sie hätte schwören können, dass diese Hand, hätte sie es doch getan, kalt gewesen wäre. Nicht kalt wie die eines Toten natürlich oder die eines schwer kranken Menschen … eher so wie die Hände von Engeln. Auch diese waren rätselhafte Wesen, die von großer Macht kündeten, im Menschen Scheu zeugten und unbestechlich waren: Sie ließen sich nicht mit einer warmen Mahlzeit ködern, mit einem Humpen frisch gebrauten Mets, einem weichen Bett oder dem warmen Feuer im Kamin. Und auch die Gräfin war nicht verführbar. Sie suche, so sagte man, nicht Bequemlichkeit, sondern die Vollendung ihrer vielen Tugenden -zurückhaltend sei sie, in allen weiblichen Künsten geschult, diplomatisch, mit einem außerordentlichen Erinnerungsvermögen ausgestattet, fleißig, weise und diszipliniert. Sie zeigte keine Gefühle, sorgte für ihre Familie und verheiratete die weiblichen Mitglieder klug.
»Und? Hast du sie gefunden?«
Agnes war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie es nicht bemerkt hatte, doch erkannte nun, dass Bruder Remi mitten in seiner Bewegung erstarrt war.
»Sind es diese … Schriften?«, drängte Bruder Ouen, als der andere sich nicht rührte.
Immer noch keine Antwort.
Agnes blickte auf das Feuer, das im Kamin prasselte. Ich könnte auf Bruder Remi zustürzen, dachte sie, ihm das Pergament entwenden, es einfach in die Flammen werfen …
Allerdings: Noch hatte er nicht bestätigt, dass es sich tatsächlich um die gesuchten Schriften handelte.
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