Meisterin der Runen
Nächten hatte sie oft wach gelegen, hatte die Mädchen im trüben Licht betrachtet und sich gefragt, welche von ihnen dumm und dreist genug war, alsbald um Richard zu buhlen und eine weitere von dessen Konkubinen zu werden. Heute wurden ihr die Lider bald schwer, und die Schwärze, die sie umfing, war ihr mehr als willkommen. In diesem dunklen Reich gab es nichts, was ihr zusetzte.
Als der Schlaf leichter wurde und ihre Unruhe wuchs, begann sie sich zu wälzen, und aus der Schwärze erstiegen Bilder – keine, die von ihrem steten Kummer kündeten, sondern von Bedrohung. Erst waren sie vage und gesichtslos; sie wusste nur, da war Gefahr, aber nicht, wem sie drohte und wer sie brachte. Doch plötzlich hörte sie Arfast im Traum erneut berichten, was er ihr bereits am selben Tag erzählt hatte: dass Bruno, der Bischof von Köln, Richard nach Beauvais eingeladen hatte.
Warum machte der Name ihr jäh solche Angst? Warum sah sie Richard reiten so wie damals an ihrer Seite im Wald, nur dass dieser Wald blutrote Blätter hatte, ihre Ränder scharf wie Messer waren und klirrten, als der Wind hindurchfuhr? Manche lösten sich von den Ästen, fielen auf Richard und zerschnitten sein schönes Gesicht, bis nur mehr eine blutige Fratze blieb.
Grundgütiger!
Alruna konnte nichts tun. Sie saß auf keinem Pferd, dem sie die Sporen geben konnte, ihre Füße waren wie gelähmt, und der Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet. Immer mehr Blätter fielen von den Bäumen, bis der Wald kahl war, und durch schwarze Stämme hindurch sah sie Bruno von Köln – zumindest glaubte sie, dass er es war, trug er doch das rote Gewand des Klerus und ein großes Kreuz auf der Brust. Mann Gottes oder nicht, er lachte, wie nur der Teufel lachte. Schrill und durchdringend.
Mit aller Macht versuchte sie, dem Lachen etwas entgegenzusetzen, und endlich konnte sie schreien. Sie schrie, schrie und schrie, bis sie wach war, fuhr hoch, bekam einen Tritt. Sie sah nicht, wer ihn ausgeteilt hatte, fand keine Zeit, ihn der anderen heimzuzahlen. Noch in ihrem Unterkleid lief sie hinaus auf den Gang, nicht unter scharfen Blättern, sondern an Fackeln vorbei, nicht von Richards blutiger Fratze verfolgt, sondern von den gleichmütigen Blicken der Wachtposten. Sie beruhigte sich dennoch nicht, wusste besser als im Traum: Gefahr! Es drohte Gefahr!
Das Grau des Morgens war noch müde, der Hof schlief. Nur von einem konnte sie sicher sein, dass er schon wach war – ihrem Vater Arvid. Vor der Ehe mit ihrer Mutter war er Novize gewesen und hatte seitdem nicht die Gewohnheit aufgegeben, frühmorgens in der Kapelle zu beten – für sie, ihre Mutter und die zwei jüngeren Geschwister, die nach ihr auf die Welt gekommen waren, das eine bereits tot, das andere so schwach, dass es wenig später starb. Längst hatten die Eltern den Schmerz überwunden – das Gedenken an die beiden aber wollten sie bis zum letzten Atemzug am Leben erhalten.
»Vater!«
Er zuckte zusammen, fuhr herum und musterte sie. Sie rechnete mit Tadel ob ihres jähen Erscheinens und ihres Aufzugs, doch in seiner Miene stand nur Sorge, weil sie sichtlich fror.
Er wusste nicht, dass sie nicht vor Kälte zitterte, sondern vor Angst.
»Vater! Was macht Richard in Beauvais? Warum hat Bischof Bruno ihn eingeladen?«
Sein Blick war verständnislos, aber aus ihrer Stimme sprach solche Not, dass er wohl ahnte, wie wenig Zeit sie ihm für die Antwort lassen würde.
»Bruno ist der Bruder von Gerberga«, murmelte er.
»Der Mutter des fränkischen Königs!«
Alruna erschauderte. Gerberga, so hieß es, hasse Richard, so wie sie alle Normannen hasste. Ihr Mann war ein schwacher König gewesen, ihr Sohn, der jetzt auf dem Thron saß, war es auch. Er könnte etwas stärker werden, fiele ihm Richards Land anheim.
»Aber warum ist er der Einladung gefolgt?«, rief sie verzweifelt.
»Du weißt doch: Richard befindet sich in einem steten Konflikt mit Thibaud von Chartres. Immer wieder fällt dieser in unser Land ein, und Bruno hat angeboten zu vermitteln.«
Thibaud le Tricheur hasste Richard auch, und noch mehr dessen Gattin Lieutgarde. Mehr als einmal hatte sie Richard vor Zeugen als Sohn einer Konkubine beschimpft, weil dessen Vater Wilhelm nicht mit seiner Mutter Sprota verheiratet gewesen war.
»Ich verstehe nicht … Was hat denn Bruno mit le Tricheur zu schaffen?«
»Bei dem Konflikt geht es um die Grenzregion von Avre. Beide erheben Ansprüche darauf – und nicht nur sie. Jüngst hat auch Brunos
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