Meisterin der Runen
Und überdies ließ sich Pergament, das schließlich aus Leder gemacht war, kaum verbrennen, und wenn, dann nur langsam und üblen Rauch verbreitend. Um die Schriften zu vernichten, müsste man sie abschaben, aber das war eine ebenso langwierige Arbeit, wie das Pergament zu beschreiben, und so viel Zeit hatte sie nicht. Es galt, einen anderen Weg zu finden, die Mönche von ihrem Tun abzuhalten. Warum fiel ihr nur keiner ein? Hatte sie sich nicht eben noch geärgert, als Bruder Remi behauptet hatte, die Frauen wären von Gott mit mehr Gefühlen als Verstand beschenkt worden? Warum gebärdete sie sich dann selbst wie ein kleines Mädchen, das von seiner Angst um die Zukunft bezwungen wurde, anstatt nüchtern zu überlegen, was zu tun war!
Wenn sie länger untätig stand, bewies sie genau die Eigenschaften, die die Mönche den Weibern zuschrieben: Einfältig wäre sie, arglos … ungefährlich, nicht fähig zum listigen Ränkespiel, nicht stark genug, ihren düsteren Plänen etwas entgegenzusetzen.
Sie musste etwas tun! Sie musste …
Plötzlich verzog sich Agnes’ Mund zu einem Lächeln. Und wenn sie weder sich noch den Gottesmännern zu beweisen versuchte, dass sie nicht dumm war? Wenn sie vielmehr darauf setzte, dass man sie genau dafür hielt?
Sie musste sie ja gar nicht zur Rede stellen, um sie von ihrer Suche nach den geheimen Schriften abzuhalten, sie musste lediglich …
Sie lächelte nicht länger, setzte eine unschuldige Miene auf und räusperte sich laut. Nicht die geringste Überraschung stand ihr im Gesicht geschrieben, als die beiden Mönche entsetzt herumfuhren. Als sie auf sie zutrat, tat sie so, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, sie hier anzutreffen, und als wäre sie eben erst über die Schwelle getreten.
»Mein Gott, Mädchen, was tust du hier?«, rief Bruder Remi erschrocken, Bruder Ouen lief puterrot an.
Dass sie den beiden so leicht zusetzen konnte, erfüllte sie mit Schadenfreude, doch auch diese zeigte sie nicht. »Schnell!«, rief sie. »Oh, ich bitte euch, kommt schnell! Es bleibt keine Zeit mehr!«
III.
962
Am Tag vor der Hochzeit floh Gunnora aus dem Haus. Schon in den letzten Tagen war sie nur selten dort gewesen, denn die Vorstellung, dass ihre zarte Schwester alsbald dem tumben Samo gehörte, machte sie verrückt, und noch unerträglicher als dies war ihr der Besuch eines Priesters gewesen, der aus dem nächstgelegenen Dorf gekommen war, um Seinfreda zu taufen.
Dies war eine Bedingung von Hilde gewesen, die bis zuletzt versucht hatte, die Heirat zu verhindern. Am Ende hatte sie eingesehen, dass eine tüchtige Arbeitskraft wie Seinfreda auch ihr von Nutzen war und sie nicht ewig leben würde, um den Sohn vor der Einsamkeit des Waldes zu bewahren, aber sie wollte sichergehen, dass die künftige Schwiegertochter keine Macht hätte, sie mit heidnischen Flüchen zu belegen.
Der Priester, der den Wald zu hassen schien und ihn als gottlosen Ort verfluchte, wo nur seelenlose Tiere und verdammenswerte Diebe und Räuber lebten, blieb zu Gunnoras Erleichterung nicht lange. Zur Eheschließung selbst brauchte man ihn nicht, wie Samo erklärte. Es genügte, vor dem Ältesten der Sippe – und das war Hilde – den Willen zu bekunden, den anderen zum Gatten zu nehmen. Dafür allerdings wollten sie bis zum morgigen Sonntag warten, auf dass er noch ein wenig Wild für ein Festmahl jagen konnte.
Gunnora war sich sicher, keinen Bissen davon herunterzubringen. Während Seinfreda daranging, das Haus zu kehren, lief sie immer tiefer in den Wald und erreichte bald jenen Baum, in den sie – weit genug von Hildes misstrauischem Blick entfernt – neue Runen geritzt hatte.
An diesem Tag konnte sie keine Runen ritzen, sondern nur daran denken, wie in Dänemark Hochzeit gefeiert wurde. Mehrmals hatte sie solche Feste erlebt. Der Boden wurde mit frischem Stroh bestreut, die Tische bogen sich unter hölzernen Platten mit geräuchertem Fisch und Rindfleisch, Jongleure unterhielten die Feiernden, und Musiker bliesen auf der Knochenflöte. Hier hingegen würde keine Musik erklingen, hier war nur das Lied des Waldes zu hören – und Samo und seine Mutter waren selbst dafür taub.
In Dänemark mussten Männer und Frauen von gleichem Rang, Stand und Vermögen sein. Die Frau brachte den Mundschatz in die Ehe mit, den sie auch dann behielt, wenn diese getrennt wurde. Seinfreda hingegen würde nicht Herrin des Hauses sein, sondern kaum mehr als eine Sklavin. In Dänemark braute man eigens
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