Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
Vom Netzwerk:
Bier für die Hochzeit, hier trank man nichts dergleichen.
    Gunnora hatte den bitteren Geschmack von Bier nie gemocht, aber jetzt hätte sie gern so lange getrunken, bis der Kopf zu schwer zum Denken und der Schmerz in ihrer Brust betäubt wäre. Sie schloss die Augen, öffnete sie wieder, nahm zum ersten Mal wahr, dass sich die Blätter rot und gelb zu färben begannen.
    Nun gut, der Zeitpunkt war nicht schlecht gewählt. Auch in der Heimat befand man den Oktober als guten Monat zum Heiraten, nachdem die Ernte eingebracht, das Heu in den Scheunen gelagert, das Vieh geschlachtet und der Fisch getrocknet worden war.
    Aber das allein vermochte sie nicht zu versöhnen, war es doch nicht zuletzt der nahende Winter, der Seinfreda in ihrem Entschluss bekräftigt hatte. Wenn wir nicht hierbleiben können, hatte sie erst am Tag zuvor noch zu Gunnora gesagt, werden wir irgendwo erfrieren.
    Gunnora hatte keine Angst vor Kälte. Sie war doch aus Eis, erstaunlich, dass sie noch Qual spürte.
    Sie lief weiter, kam an ein Bächlein, wo Seinfreda sich am Morgen notdürftig gereinigt hatte. Nichts hatte diese Katzenwäsche mit dem Bad gemein, das eine Braut in Dänemark nahm, ehe sie mit Blumenkränzen geschmückt wurde. Auch auf Letztere hatte sie zu verzichten, denn im Wald wuchsen keine Blumen. Im Wald war auch kein Leinenschleier zu finden, der sie vor den Kräften des bösen Blickes schützen sollte. Nur ihr Haar, das ihr bislang offen über den Rücken fiel, konnte sie flechten und hochstecken, wie es Brauch war.
    In den Nächten würde sie es lösen, in den Nächten mit Samo … Er würde sie nehmen, aber ihr am Morgen nach der Hochzeit nichts schenken können, kein Kleid aus Leinen, keine Truhe mit Holzschnitzereien oder kostbarem Schmuck. Wevia hatte erst letztens gefragt, ob Seinfreda eine Kette bekommen würde, aber Hilde hatte schroff erklärt, es sei großzügig genug, dass fürderhin Seinfredas Schwestern mit ihnen unter einem Dach leben konnten. Wevia war zutiefst verstört gewesen, und in ihrer Miene hatte sich Gunnoras Hilflosigkeit gespiegelt.
    Auf Schmuck konnte Seinfreda gewiss verzichten, aber doch nicht auf Freiheit! Der Freiheit, sich jederzeit von ihrem Mann zu trennen, wenn er sie nicht ernähren konnte oder nicht gut zu ihr war, der Freiheit, wie sie den Frauen in Dänemark zustand!
    Hier war das, wie Hilde bekundet hatte, nicht möglich. Hier fiel man dem Gatten mit Haut und Haar anheim, hier gehörte man selbst im Falle dessen Todes weiterhin zu seiner Sippe.
    Aufseufzend lehnte sich Gunnora gegen ihren Runenbaum. Das Licht im Wald war immer trüb, doch nun stiegen überdies graue Nebelschwaden vom Boden hoch, vielleicht nur Vorboten von Regen, vielleicht aber Zeichen, dass der Tag sich neigte und die letzte Nacht kam, in der Seinfreda Samo noch nicht gehörte. Was immer danach geschah – am übernächsten Tag würde ihre Schwester eine andere sein.
    Und wer bin ich?, fragte sich Gunnora.
    Die Tochter von Ermordeten … eine Heimatlose in der Fremde … eine große Schwester, der es nicht gelingt, den Geschwistern das Notwendige zu geben – Seinfreda den richtigen Mann, Wevia kostbaren Schmuck und Duvelina Trost, wenn sie nach der Mutter weinte.
    Ich tauge zu nichts.
    Sie blinzelte ihre Tränen fort und hob die Hand, um die Runen zu erspüren. Der Wald schwieg. Die Tiere versteckten sich vor ihr und ihrem Hader – oder vor den Geistern, Wiedergängern und Dämonen, die jetzt im Herbst am meisten Macht entfalteten.
    Gunnora hatte keine Angst vor ihnen, hoffte vielmehr, dass ihre Eltern, wie man es manchen Toten nachsagte, die Gestalt von Adler, Wolf oder Stier annähmen.
    Ich könnte mit euch fliegen, mit euch Beute jagen, mit euch das Schicksal mit Hörnern aufspießen …
    Nun vernahm sie doch ein Rascheln und fuhr herum. In der letzten Zeit trieb es manchmal Menschen in den Wald, vor allem Bauern, die mit kleinen Messern die letzten Blätter schnitten, um sie als Winterfutter für ihr Vieh zu lagern. Gunnora war es immer gelungen, ihnen auszuweichen, und auch jetzt erblickte sie keine Menschen, sondern nur ein Eichhörnchen. Es lief von Baum zu Baum, blieb dazwischen stehen und musterte sie mit einem Blick, der sie verschlagen deuchte. Sie musste an eine der vielen Geschichten ihres Vaters denken, von Ratatöskr, dem Eichhörnchen, das im Weltenbaum Yggdrasil zwischen Baumkrone und Wurzeln hin und her kletterte und üble Nachrede vom Adler bis zum Drachen verbreitete.
    Es war keine schöne Geschichte

Weitere Kostenlose Bücher