Meisterin der Runen
alles Leid zu ersparen.
Seinfreda löste sich von ihr und ging ins Haus. Gunnora blieb allein zurück.
Alruna liebte Richard, seit sie denken konnte und noch länger, denn der Mensch fühlt, ehe er denkt, und als ein Bruder dieser Liebe hatte sich stets der Schmerz erwiesen. Bislang war er zwar beharrlich, aber erträglich gewesen, einem leichten Kopfbrummen gleichend, nachdem man zu viel getrunken hatte. Nun wuchs er maßlos an, hockte nicht mehr nur in der Brust, sondern überall. Was hätte sie gegeben, sich für kurze Zeit zu betäuben und nicht sehen zu müssen, wie Richard mit seinen Konkubinen scherzte! Es waren viel mehr, und sie waren viel schamloser als die, die er vor Emmas Tod empfangen hatte. Sie machten ihrer Mutter, die für die Hofhaltung zuständig war, das Leben schwer, weil sie ständig neue Wünsche äußerten, und quälten Alruna allein mit ihrem Anblick.
Nein, dieser Schmerz glich keinem Schädelbrummen mehr, er legte sich wie ein Panzer, der sie erdrückte, um ihren Körper, war wie ein Messer, das in ihrem Innersten stocherte, wie eine Spinne, die ein Netz um sie wob und sie langsam vergiftete. Er war so groß, der Schmerz, und das, was von ihr blieb, so klein – viel zu klein, viel zu schwach auch, um der Mutter zu helfen und um weiterzuleben wie zuvor.
Das Einzige, was es mit dem Schmerz aufzunehmen vermochte, war ihre Wut. Der Schmerz kannte keine Sprache, die Wut hatte viele Fragen: Warum lächelte Richard seine Konkubinen neckisch an, warum nicht sie? Warum sahen die Konkubinen durch sie hindurch, als gäbe es sie nicht? Wie konnten sie allesamt es wagen, ihr gegenüber blind zu sein?
Sie stellte sich vor, den Weibern Wunden zuzufügen, um die eigenen zu ertragen, an ihren Haaren zu reißen, ihnen die Haut zu zerkratzen, ihnen die Zähne auszuschlagen. Allerdings – und wären sie noch so entstellt, sie hätten ihr die Erinnerungen an lustvolle Nächte mit Richard voraus, und würde er sie verstoßen, weil sie zu hässlich waren, erneut bei ihm zu liegen, würden ja doch nur andere an ihren Platz treten. Es gab immer andere. Und sie würde nie eine dieser anderen sein.
Dass sie sich zumindest zwang, zu essen und zu trinken, war allein der Mutter geschuldet. Ihr wollte sie keine Sorgen bereiten, und noch weniger wollte sie erneut ihr Mitleid dulden oder gute Ratschläge hören. Fürs Erste hatte sie Erfolg: Seit dem Ausritt sprach Mathilda mit ihr nicht mehr über Richard. Doch als sie schon hoffte, die Mutter hätte schlichtweg vergessen, dass sie den Grafen liebte, trat sie eines Tages, da ihre Tochter vorm Spinnrad saß, jedoch keinen Faden aus dem Flachs zog, sondern nur blicklos vor sich hinstarrte, zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Alruna …«
Etwas lag in ihrer Stimme, das Alruna wachsam stimmte, etwas in ihrem Blick, das bekundete: Ich sehe mir dein Elend nicht länger an.
Obwohl sie noch kein Wort gesagt hatte, hätte Alruna am liebsten die Hand weggestoßen und die Mutter angefahren: Ich ertrage es! Ich ertrage es, weil ich Richard liebe! Und lieber leide ich, als ihn nicht zu lieben!
Doch ehe sie etwas sagen konnte, erkannte sie, dass ihre Mutter nicht allein zu ihr gekommen war. Ein Mann begleitete sie – jünger als Richard, aber nicht ganz so schön, stattlich, aber nicht so stark, der Jugend entwachsen, aber noch nicht vom Leben gezeichnet.
Alruna ahnte, warum er gekommen war, noch ehe die Mutter ein Wort sagte.
»Das ist Arfast … ein Verwandter von Osborn von Cent-Ville.«
Letzterer war ein Berater von Richard und noch mehr als das: ein langjähriger Freund. Als Richard fast noch ein Kind und Geisel des fränkischen Königs gewesen war, hatte Osborn ihm zur Flucht verholfen. Jemanden, der mit ihm verwandt war, vergrätzte man besser nicht, das wusste Alruna, obwohl sie gern etwas Böses zu Arfast gesagt hätte. Nur mühsam wahrte sie die Fassung und wollte nicht recht hören, was eine vernünftige Stimme ihr zuraunte: Er kann doch nichts dafür, dass deine Mutter ihn für ihre Zwecke nutzt. Und es ist nicht seine Schuld, nicht Richard zu sein.
Dennoch … Wie konnte er es wagen zu lächeln, wie wagen, näher zu kommen und zu säuseln: »Ich habe gehört, dass es in Rouen niemanden gibt, der schöner spinnt, webt und näht als du.«
Alruna blickte ihn an und verzog ein wenig den Mund. Arfast hielt es für ein Lächeln, denn er strahlte sie an. Die Mutter schien erleichtert.
»Warum bist du hier? Brauchst du ein neues Wams? Einen Umhang
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