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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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– und dennoch, sie kannte sie, kannte sie alle, die Geschichten des Nordens, die Bräuche, die Sitten, die ihrem Volk Kraft und Lebensmut verliehen, kannte sie zwar nicht so gut wie Walram und Gunhild, aber gewiss besser als die meisten ihres Volkes.
    Wer bin ich, wer will ich sein?
    Nicht nur die Angehörige einer Sippe von Opfern, dachte sie, kein hilfloses Weib, das danach trachtet, einen Mann zu finden und unter dessen Kittel zu kriechen, um fortan zu leugnen, woher sie kam. Nein, sie wollte eine starke Frau sein, eine Tochter des Nordens, vertraut mit den Göttern, eine Meisterin der Runen.
    Zum ersten Mal seit Langem fühlte sie nicht Schmerz und nicht Eis, sondern die Erde unter den Füßen. Sie fühlte deren Herzschlag, und er wurde eins mit ihrem.
    Das Eichhörnchen blickte sie immer noch an, und plötzlich wuchs die Überzeugung: Es war kein Zufall, dass es um ihre Füße huschte, sondern ein Zeichen.
    Blitzschnell bückte sie sich, nahm einen Stein, schleuderte ihn auf das flinke Tier – und traf es sofort. Die Ahnung, dass es von Göttern geschickt worden war, wurde zur Gewissheit. Frigg, die Göttin der Fruchtbarkeit, verlangte, dass sie ihr um Seinfredas willen ein Opfer darbrachte, um deren künftiges Eheglück zu sichern.
    Eigentlich war vor Hochzeiten als Opfer ein schwarzes Rind gefordert, aber hier gab es nun mal keine Rinder, und eigentlich genügte ein solches Opfer auch nicht. Man musste, um Segen für das Paar zu erwirken, einen Hammer unter dem Brautbett verstecken, doch auch den hatte sie nicht. So musste sie die alten Bräuche hier eben neu erfinden.
    Gunnora hackte dem Eichhörnchen den Kopf ab, tauchte ihre Finger in das Blut, schrieb damit eine Rune auf einen Baum – die siebte Rune namens Gebo, was so viel wie Geschenk bedeutete. Sie stand für Friede und Treue, für Vereinigung und Partnerschaft, und wurde sie zum Segen, konnte sie den Bund von Mann und Frau stärken.
    Laut begann sie zu sprechen: »Euer Bund, Samo und Seinfreda, möge fruchtbar sein, Friede über die ganze Sippschaft bringen und Wärme schenken.« Eigentlich glaubte sie nicht an ihre Worte, aber sie glaubte an die Macht der Runen, und diese war größer als ihre. »Ihr sollt in Wohlstand leben«, fuhr sie fort, »keine Sorgen haben und euer Glück finden.«
    Ihre Stimme klang rau und tief.
    Die, die sie störte, einmal mehr schrill und hoch.
    Damit beschäftigt, die Blutrunen zu malen, hatte sie nicht bemerkt, dass Hilde ihr gefolgt war. So erleichtert die Alte eigentlich sein sollte, dass sie aus dem Haus geflohen war, war es ihr wohl nicht geheuer, dass sie es ausgerechnet am Tag vor der Hochzeit verließ.
    »Was tust du hier?«
    Der Nebel war so hoch gestiegen, dass die Runen kaum mehr zu sehen waren, und obwohl sie zunächst anderes im Sinn hatte, versteckte Gunnora rasch das tote Eichhörnchen hinter ihrem Rücken. Das Blut tropfte warm von der Hand, aber Hilde bemerkte es nicht. Und statt Vorwurf und Misstrauen stand ihr plötzlich Angst im Gesicht geschrieben – wie Gunnora vermutete, nicht vor ihr, sondern vor dem nebligen Wald.
    Gunnora kannte diese Angst nicht länger. Die Einsamkeit, die ihr so oft zugesetzt hatte, war nun, nachdem sie ihr Opfer gebracht hatte, ihre treue Gefährtin, ihre Lehrmeisterin, ihre Vertraute.
    »Was tust du hier?«, wiederholte Hilde.
    Gunnora lächelte ein wenig so, wie es Seinfreda zu eigen war.
    »Nichts … ich komme mit dir.«
    In ihrer Furcht wirkte Hilde dümmlich. Sie hatte keine Ahnung, wer Gunnora war, aber bald … bald würde sie es wissen.
    Am Morgen nach der Hochzeit saßen sie bei der Grütze beisammen. Die Körner waren wie immer hart, aber an diesem Tag vermeinte Gunnora, Steine zu kauen.
    Seinfreda war rotwangig – ob vor Scham oder Aufregung vermochte Gunnora nicht zu sagen. Sie wirkte nicht unglücklich, aber das musste nichts heißen, schließlich hatte sie auch nach dem Tod der Eltern gelächelt. Samo lächelte auch, wenngleich nur flüchtig, wich dem Blick seiner Mutter ebenso aus wie ihrem, aber schien irgendwie zufrieden, sofern ein so einfacher Mann wie er zu Gefühlen überhaupt fähig war.
    Gunnora hatte die Nacht im Freien verbracht, um die beiden nicht hören zu müssen, Wevia und Duvelina hingegen hatten bis zum Morgen tief geschlafen. Nun saßen sie verschüchtert da. Hilde wirkte angespannt, als rüste sie sich zum Kampf. Sie schien nicht recht einschätzen zu können, was genau vom Eheweib des Sohnes zu erwarten stand, gab es doch nichts, was

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