Melina und das Geheimnis aus Stein
ignoriere ich das Knurren und arbeite weiter, schreibe Sachen aus dem Naturkundeführer ab und beschrifte die eingeklebten Blätter mit ihren lateinischen Namen. Unten läuft der Fernseher, Mama schaut ihren Tierfilm. Ab und zu höre ich das gedämpfte Brüllen eines Löwen.
Paps’ Schlüssel im Schloss höre ich nicht, dafür Mamas Schritte auf der Treppe. Vor meiner Zimmertür bleibt sie stehen und wartet. Ich warte auch.
„Kann ich reinkommen, Melina?“, fragt sie schließlich.
„Hmm“, brumme ich. Das kann „ja“, aber auch „nein“ heißen. Für Mama heißt es „ja“.
„Ich hab dir was mitgebracht“, sagt sie und legt ein schmales Buch auf meinen Schreibtisch. Sie schiebt es eine Weile auf der Tischplatte hin und her, bis es gerade liegt.
„Eigentlich wollte ich mit dir reden. Tut mir leid, dass ich vorhin nichts sagen konnte, ich war zu … überrascht. Ich weiß, dass Paps und du … dass ihr es seit Jonas’ … seit Jonas’ Tod nicht leicht mit mir habt. Ich wollte dir nur sagen, dass … dass ich jetzt in Behandlung bin. Wegen meinen Depressionen.“ Sie schluckt.
Wir starren beide das Buch an.
„Ich bekomme Tabletten, die gegen die Traurigkeit helfen sollen. Und einmal in der Woche gehe ich zu einer Therapeutin, um mit ihr über Jonas zu sprechen. Es wird etwas dauern. Aber ich denke, ich krieg das schon wieder hin. Wir kriegen das zusammen wieder hin.“
Mama sieht mich an und ich merke, dass ich jetzt aufstehen und sie umarmen sollte. Aber ich bleibe auf meinem Stuhl sitzen, weil ich es irgendwie nicht kann. Obwohl ich es gerne möchte.
„Danke für das Buch“, sage ich, weil ich das Gefühl habe, dass jetzt jemand was sagen muss.
Mama lächelt kurz. „Du musst reinschauen, Maus.“ Dann streicht sie mir kurz über den Kopf und geht wieder hinunter zu ihren Löwen.
Als sie weg ist, schlage ich das Buch auf. Zwischen zwei Lagen dünnem Papier finde ich einen getrockneten Zweig. Er hat gelbe, tropfenförmige Blätter.
Ich weiß sofort, dass es eine Robinie ist, das letzte Blatt, das mir für das Herbarium noch gefehlt hat.
„Du kannst deiner Mutter das geborgte Geld ja wieder zurückzahlen. Von deinem Taschengeld“, schlägt Pippa mit unsicherer Stimme vor.
Ich drehe den schmalen Zweig der Robinie in den Händen.
Rabbi Löw und der Golem
Eine Woche überlege ich hin und her, ob ich das gestohlene Geld ausgeben soll. Ich warte darauf, dass Mama merkt, dass etwas fehlt, und mich zur Rede stellt. Aber nichts passiert. Schließlich kaufe ich den hellgrauen Mantel. Er kostet mich mein komplettes Erspartes (20 Euro) plus das Geld von meiner Mutter (15 Euro). 35 Euro sind nicht viel dafür, dass aus einem Friedhofsengel ein halbwegs normaler Junge werden kann.
Trotzdem ist es ein hoher Preis.
„Du hast es für Will getan“, versucht Pippa mich aufzubauen.
„Das ändert auch nichts daran, dass ich Mama bestohlen habe“, antworte ich und betrachte das matschige Laub zu meinen Füßen. Es ist ein trüber Tag, so einer, an dem man sich am liebsten im Bett und in seinem Lieblingsbuch verkriechen möchte.
Stattdessen treibe ich mich heimlich auf einem Friedhof herum, um Will seine neuen Kleider zu bringen. Gerade als ich das schmiedeeiserne Tor hinter mir zumache, legt sich von hinten eine große Hand auf meine Schulter.
Vor Schreck krampft sich alles in mir zusammen, sodass ich mich kaum umdrehen kann. Die Hand gehört dem Steinkauz. Seine Wangen sind voller grauer Bartstoppeln und er hat dunkle Ringe unter den Augen, als hätte er in der letzten Nacht zu wenig geschlafen. Und in den Nächten davor auch.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken“, sagt der Steinkauz und lässt mich sofort los. Jetzt fällt mir auch wieder ein, dass er mit Vornamen Hubertus heißt. „Ich muss dringend mit dir sprechen.“ Er senkt die Stimme und flüstert: „Es geht um die Statue.“
„Welche Statue?“, frage ich, obwohl ich mir schon vorstellen kann, welche er meint.
„Die Engelsstatue von Grab 273. Du warst doch dabei, als die beiden alten Damen behauptet haben, die Statue würde auf dem Friedhof herumspuken …“
Ich versuche ein Lachen, um ihm zu zeigen, dass ich diesen Gedanken lächerlich finde. Damit er einfach aufhört zu reden. Aber Hubertus hört nicht auf.
„Ja, ich habe auch gedacht, die beiden hätten nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber nach dem Vorfall habe ich den Engel trotzdem im Auge behalten.“ Hubertus gerät kurz ins Stocken, dann fährt er
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