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Melina und das Geheimnis aus Stein

Melina und das Geheimnis aus Stein

Titel: Melina und das Geheimnis aus Stein
Autoren: Marlene Röder
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weißt wahrscheinlich, dass es viele Vorurteile gegen Menschen mit jüdischem Glauben gab – und leider bei manchen Leuten immer noch gibt. Um seine Gemeinde vor Feinden zu schützen, schuf Rabbi Löw mit Hilfe seiner Schüler ein Wesen aus Lehm – einen Golem. Golem ist das hebräische Wort für Embryo, aber auch für etwas Ungeformtes. Der Legende nach erwachte der Golem zum Leben, als Rabbi Löw ihm einen Zettel mit dem Schem , dem Namen Gottes, unter die Zunge legte.
    Auch wenn der Golem nicht sprechen konnte, konnte er viel Gutes für die Gemeinde tun. Er bewachte das jüdische Viertel. Jeden Abend, wenn er seine Aufgaben erfüllt hatte, nahm Rabbi Löw ihm den Zettel aus dem Mund und der Golem erstarrte wieder zu einem Klumpen Lehm. Und jeden Morgen, wenn ihm Rabbi Löw den Zettel unter die Zunge legte, erwachte der Golem erneut zum Leben. Er hatte sogar einen Namen, wie ein Mensch aus Fleisch und Blut.“
    „Genau wie unser Will! Und wie ich!“, flüstert Pippa mir ins Ohr. Verborgen zwischen meinen Haaren, hatte sie gebannt gelauscht. „Der Unterschied ist nur, dass wir nicht aus Lehm sind und sprechen können.“ Sie kichert leise. „Außerdem bist du ja wohl kein Rabbi. Bis zur Weisheit ist es bei dir jedenfalls noch ein langer Weg …“ Wie kann ein kleines Stück Plastik nur so frech sein?
    „Das war eine schöne Geschichte“, sage ich laut zu Hubertus.
    „Oh, sie ist noch nicht zu Ende“, antwortet er. „Es gibt mehrere Versionen. In einer tobte der Golem schließlich durch die kleinen Gassen des jüdischen Viertels in Prag und zerschlug alles, was sich ihm in den Weg stellte.“
    „Warum … Wie ist das denn passiert?!“, frage ich.
    „Es heißt, Rabbi Löw habe eines Abends vergessen, dem Golem den Zettel wieder aus dem Mund zu nehmen. Auch die weisesten Männer machen manchmal Fehler, oder? Das ist menschlich. Aber wenn du meine Meinung hören willst … Ich glaube, der Golem wollte sich nicht länger von Rabbi Löw führen lassen wie eine Marionette. Er hatte seinen eigenen Willen entwickelt.“
    „Wie ging die Geschichte aus?“, möchte ich wissen und merke, dass sich meine feuchten Hände in den Stoff meiner Jeans klammern.
    „Nun, ich schätze, sie kämpften, Rabbi Löw und sein Golem.“ Bedächtig klopft Hubertus seine Pfeife auf dem Stein aus. Die Reste glühen noch. „Was einmal zum Leben gekommen ist, will es nicht wieder verlieren. Es will die Herrschaft über seinen eigenen Körper, über sich selbst.“
    „Wer hat gewonnen?“, frage ich atemlos.
    „Was glaubst du denn?“, fragt Hubertus zurück.
    „Bestimmt Rabbi Löw“, antworte ich voller Überzeugung. „Er war doch ein weiser Mann.“
    Hubertus wiegt den Kopf. „Ich weiß nur, dass auf dem Dachboden der alten Synagoge in Prag ein großer Staubhaufen liegt. Manche Leute behaupten, das seien die Reste des Golems.“
    Wir starren beide auf den Stein, auf dem Hubertus seine Pfeife ausgeklopft hat. Der Duft ist verflogen. Was geblieben ist, ist ein Häufchen Asche.
    Der Gedanke, dass Will eines Tages nicht mehr da sein könnte, macht mir Angst.
    Ich habe mal mit Mama eine Doku über das Leben in der Tiefsee angeschaut. Da gab es einen Kraken, der die Fangarme mit den Saugnäpfen ausstreckte und mit seiner Tintenwolke alles dunkel machte. Genau so fühlt sich der Gedanke an ein Leben ohne Will an. Als würde es dunkel werden in mir drin.
    Ich merke, dass Hubertus mich aufmerksam mustert. „Die Geschichte gefällt dir nicht, was? Das kann ich an deinem Gesicht ablesen, Melina. Es gibt noch ein anderes, ein friedlicheres Ende. Das besagt, die jüdische Gemeinde habe den Golem einfach nicht mehr gebraucht. Nachdem er auf dem Dachboden der Synagoge eingeschlafen war, sorgten seine Schöpfer dafür, dass er wieder zu dem wurde, was er früher gewesen war. Der Golem wachte nicht wieder auf.“
    „Dieses Ende finde ich auch blöd!“, rufe ich und fege das Aschehäufchen zur Seite. „Warum musste der Golem sterben? Rabbi Löw und er waren doch so was wie Freunde, oder? Es hätte doch einfach alles so bleiben können, wie es war!“
    „Melina“, sagt Hubertus sanft. Aber da bin ich schon auf dem Weg aus der Werkstatt und knalle die Tür hinter mir so fest zu, wie ich nur kann.
    „Es war doch nur eine Geschichte!“, will Pippa mich beruhigen, als ich von Hubertus’ Hof stürme. Aber ich will nichts mehr hören. Ich habe nicht mal mehr Lust, Will seine neuen Kleider zu bringen. Ich möchte nur noch nach Hause.

Was
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