Melina und das Geheimnis aus Stein
mit fester Stimme fort: „Er bewegt sich tatsächlich.“
Ich starre ihn an, geschockt, dass er etwas über Wills geheimes Leben herausgefunden hat.
„Ich weiß, was du jetzt denkst. Zuerst habe ich auch gedacht, ich würde mir das Ganze nur einbilden. Aber ich habe Beweise!“
Ein Teil von mir will weglaufen, aber ein anderer, stärkerer Teil ist furchtbar neugierig auf diese Beweise. Also folge ich Hubertus zu seiner Werkstatt, die direkt gegenüber vom Friedhof liegt. Wir laufen über einen Hof, auf dem jede Menge Grabsteinmodelle in unterschiedlichen Formen und Steinarten ausgestellt sind.
Im Inneren des Ateliers, wie Hubertus es nennt, ist der Boden mit einer Schicht Steinstaub überpudert. Staunend betrachte ich die Werkzeuge, die Hubertus für die Arbeit an den Grabsteinen braucht. Doch dann wird mein Blick von einer Wand angezogen, an der Fotos kleben. Alle Fotos sind ordentlich mit Datum beschriftet. Alle zeigen dasselbe Motiv: Will.
Mir wird eiskalt.
„Ich habe den Engel jeden Abend nach meiner Arbeit fotografiert“, erklärt Hubertus, und ich merke an seinem Tonfall, dass er mächtig stolz auf diesen Einfall ist. „Auf den ersten Blick schien sich nichts verändert zu haben, aber wenn man genauer hinschaute …“ Er tippt auf eine mit Edding eingekreiste Stelle. „Siehst du das Laubblatt, das er hier in der Hand hält? Und achte auf den Gesichtsausdruck: Der Engel sieht unglücklich aus, findest du nicht auch?“
„Ja“, flüstere ich. Das muss der Abend gewesen sein, an dem Will auf der Mauer saß und die Häuser anstarrte. Der Abend, an dem ich ihn angeschrien habe.
„Aber hier, auf dem Foto, das ich am nächsten Tag gemacht habe, ist das Blatt wieder verschwunden. Und sein Gesicht wirkt viel fröhlicher. Schau nur, er lächelt!“ Kein Wunder, schließlich hatte ich Will an dem Abend versprochen, ihm neue Kleider zu besorgen. Die Kleider, die jetzt in meinem Rucksack stecken.
„Ich habe schon überlegt, mit der Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. So ein Fernsehteam auf dem Friedhof, das wär doch mal was Aufregendes!“ Der Steinkauz wirft mir einen lauernden Blick zu. Seine buschigen Augenbrauen tanzen auf und ab. Gerade sieht er wirklich aus wie eine Eule. „Was meinst du?“
Immer schön in Deckung bleiben. „Ich?“, stottere ich. „Wieso ich?“
„Ja, du. Du bist doch jeden Tag da hinten in der Ecke.“
Wenn die Maus nicht aufpasst, ist sie Eulenfutter. „Ich besuche das Grab meines Bruders, das ist doch nicht verboten!“
„Nein, natürlich nicht.“ Hubertus macht eine kleine Pause. „Aber da, wo du dich herumtreibst, ist schon lange keiner mehr beerdigt worden.“ Er hat mich. Die Maus zappelt unter der Kralle. „Was weißt du über den Engel?“, fragt Hubertus.
Ich schweige.
Hubertus seufzt und lässt sich auf einem unbehauenen Grabstein nieder. „Jetzt guck nicht so ängstlich, Mädchen. Ich fresse dich doch nicht. Wie heißt du eigentlich?“
„Melina“, piepse ich.
„Setz dich zu mir, Melina, dann können wir uns in Ruhe unterhalten.“ Hubertus zündet sich seine Pfeife an. Das Licht des Streichholzes erhellt sein Gesicht. Für jemanden, der das Jagdgeschick eines Käuzchens hat, ist sein Lächeln freundlich. Ich hocke mich auf die Kante eines Grabsteins und wir schweigen eine Weile, während Hubertus nachdenklich an seiner Pfeife zieht. „Die Sache mit dem Engel hat mich in letzter Zeit ziemlich auf Trab gehalten“, erzählt er schließlich. „Stundenlang habe ich nachgeforscht, um mehr darüber herauszufinden. Und ich bin fündig geworden. Es gibt Geschichten über andere.“
„Andere?“, traue ich mich zu fragen.
„Ja, andere Statuen, die zum Leben erwacht sind. Die bekannteste Geschichte ist vielleicht die vom Golem in Prag. Willst du sie hören?“
Ich nicke zögernd. Der Pfeifenrauch wölkt in bläulichen Schwaden um uns herum. Der Geruch versetzt mich in eine andere, längst vergangene Zeit.
„Niemand weiß heute mehr genau, was sich damals vor Jahrhunderten in der Stadt Prag wirklich zugetragen hat … Fest steht, dass es dort eine jüdische Gemeinde mit einem berühmten Rabbi gab. Du weißt, was ein Rabbi ist, oder? So etwas Ähnliches wie ein Priester bei den Christen.
Der Rabbi, um den es in dieser Geschichte geht, hieß Judah Löw. Er war ein Schriftgelehrter der Thora, des heiligen Buches der Juden. Und er war bekannt als weiser Mann und wichtiger Wortführer seiner Gemeinde.
Doch Rabbi Löw war in großer Sorge. Du
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