Melina und das Geheimnis aus Stein
„Ich glaube, du bist gar nicht so langweilig, wie du immer tust.“ Wahrscheinlich ist das in Jessies Welt ein Kompliment.
„Hallo, ich bin wieder da!“, rufe ich und knalle meinen Schulrucksack und den Turnbeutel in die Ecke vor der Garderobe. Ich rechne nicht wirklich mit einer Antwort, aber da kommt meine Mutter aus der Küche. „Hallo, Maus. Wie war es in der Schule?“
„Geht so“, antworte ich.
Sie nickt und sieht so aus, als würde sie sich bemühen, das übliche Mutter-Programm abzuspulen. Aber das Programm hat irgendwie Aussetzer. Statt mich zu fragen, ob ich Hunger habe, sagt sie: „Bei Paps kann es heute wieder später werden. Nachher kommt ein Tierfilm über Afrika. Hast du Lust darauf?“
Mamas Stimme klingt nervös. Aber ich habe es satt, die große, verständnisvolle Tochter zu spielen. „Nein, ich hab keine Lust auf den Film, Mama“, sage ich. „Ich hab auch keine Lust darauf, dass du immer schläfst oder so tust, wenn ich wissen will, was los ist.“ Meine Stimme wird immer dünner und höher, und am Schluss schreie ich sie an: „Ich habe keine Lust mehr auf deine Depression!“
Jetzt muss sie was sagen. Jetzt muss sie doch endlich was sagen. Aber es kommt nichts. Mama kann mir nicht mal in die Augen sehen. Wortlos geht sie rüber ins Wohnzimmer, den Kopf gesenkt wie ein welkes Blatt. Als ob ihr alles egal wäre. Als ob ICH ihr egal wäre. Immer denkt sie nur an Jonas. Der ist tot, aber ich bin doch lebendig! Zählt das überhaupt nicht? Wahrscheinlich würde Mama es gar nicht merken, wenn ich nicht mehr nach Hause kommen würde! Jedenfalls merkt sie nicht, dass ich jeden Nachmittag weg bin und eine heimliche Statue habe.
Ich will mir nur noch die Bettdecke über den Kopf ziehen und gar nichts mehr denken und fühlen. Auf dem Weg nach oben in mein Zimmer komme ich an meinem Turnbeutel vorbei, der noch immer im Flur liegt. Voll Karacho trete ich dagegen und er fliegt in die Garderobe, wo er einige Mäntel herunterreißt. Aus einer der Manteltaschen ist etwas herausgefallen. Mamas Portmonee! Ich hebe es auf und wiege es in der Hand. Doch statt es wieder zurückzustecken, öffne ich es. In dem Portmonee sind einige Geldscheine, mehr als fünfzig Euro.
„Es würde ihr bestimmt nicht auffallen, wenn ich ein bisschen Geld für Wills Mantel herausnehme“, flüstere ich Pippa zu.
In einem Fach steckt ein Foto von mir mit Jonas auf dem Arm. Ich gucke ein bisschen genervt, weil er immer so gestrampelt hat, aber gleichzeitig auch stolz, wie eine richtige große Schwester, die Verantwortung trägt. Ein halbes Jahr ist das erst her. Das Mädchen auf dem Foto hätte nie seine eigene Mutter beklaut.
Das Portmonee rutscht mir aus der Hand und fällt mit einem lauten Knall auf die Dielen. Unmöglich kann Mama das überhört haben! Ich erstarre und warte darauf, dass sie kommt und mich fragt, was ich da mache, und dann könnte ich alles erzählen und sie würde mit mir schimpfen und mir den längsten Hausarrest aufbrummen, den ich je hatte, und Fernsehverbot. Vielleicht würden wir uns gegenseitig anschreien, aber abends würde sie mir trotzdem Gute Nacht sagen kommen und dann würden wir beide zugeben, dass es uns leidtut und uns umarmen.
Ich warte. Aber Mama kommt nicht.
Ich hänge die Mäntel wieder auf und stecke das Portmonee zurück in Mamas Manteltasche. Vorher nehme ich einen Fünf- und einen Zehn-Euro-Schein heraus.
Den Rest des Nachmittags verbringe ich in meinem Zimmer. Zuerst heule ich ein bisschen, aber bald wird es mir unter der Bettdecke zu heiß.
„Du erstickst noch da drunter!“, schimpft Pippa und zerrt am Zipfel der Decke. „Komm raus, ich bringe dich auf andere Gedanken! Wie wäre es, wenn du mit deinem Heburium weitermachst?“
Ich stecke mein tränenverschmiertes Gesicht unter der Bettdecke hervor. „Das heißt Herbarium“, verbessere ich sie und schnäuze in das Taschentuch, das sie mir hinhält.
Dann setze ich mich an den Schreibtisch und fange an, die getrockneten Blätter in das Herbarium zu kleben, obwohl wir es erst Ende Oktober abgeben müssen. Die Blätter sehen noch aus wie vorher, aber die schweren Gewichte haben alles Leben aus ihnen herausgepresst.
Paps ist zum Abendessen nicht da. Ich auch nicht. Mama stellt mir ein Glas Saft und einen Teller mit Tiefkühlpizza vor die Zimmertür.
„Ich hab keinen Hunger“, sage ich laut zu Pippa. Mein Magen protestiert knurrend, aber ich will, dass Mama nachher den unberührten Teller wieder mitnehmen muss. Also
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