Melina und das Geheimnis aus Stein
die besorgte Stimme meines Vaters durch die Tür.
„Ja, klar!“, rufe ich. „Wir … äh … machen eine Kissenschlacht!“ Bei all den Federn, die im Zimmer herumfliegen, ist das noch nicht mal eine richtige Lüge. Anscheinend hat die Antwort Paps beruhigt, denn ich höre seine knarrenden Schritte auf der Treppe.
Vorsichtig lasse ich Wills Hände wieder los. Er sitzt auf dem Boden, die ramponierten Flügel ausgebreitet, den Kopf gesenkt.
„Wir lassen uns was einfallen, Kleiner. Versprochen!“, versucht Pippa ihn zu trösten. Doch Wills Stimme klingt mutlos, als er fragt: „Was denn?“ Vielleicht weint er sogar? Ich wage nicht, genauer hinzusehen. Stattdessen denke ich fieberhaft nach.
Eine Weile ist es ganz still im Zimmer. Pippa streichelt schüchtern einen der zerrupften Flügel, wie damals, als Wills Arm … Plötzlich habe ich eine Idee.
„Hubertus!“, rufe ich. „Hubertus kann dir helfen! Weißt du noch, wie er deinen Arm wieder drangemacht hat?“
Jetzt hat auch Pippa begriffen. „Das könnte funktionieren!“, zwitschert sie und tanzt aufgeregt um uns herum. „Melina müsste dich allerdings einschlafen lassen. Es geht nicht, wenn du wach bist, du blutest jetzt wie ein Mensch. Also musst du noch ein letztes Mal zu Stein werden, dann kann Hubertus dir die Flügel abmeißeln. Melina lässt dich wieder aufwachen und schwupps – bist du ein Mensch! Super Plan, oder?“, jubelt sie, als hätte sie sich das alles ganz alleine ausgedacht.
„Super“, murmele ich. Ich muss daran denken, dass ich dann keine geheime Statue mehr habe. Das macht mich ein bisschen traurig.
Will sieht mich mit glänzenden Augen an. „Hilfst du mir, Melina?“, fragt er. „Bitte! Das wäre das allergrößte … das allerschönste Geschenk!“
Ich schlucke. „Natürlich helfe ich dir“, verspreche ich ihm. „Aber erst morgen. Vorher müssen wir schlafen. Und das tun Menschen normalerweise nicht auf dem Schrank, sondern im Bett. Da kannst du dich schon mal dran gewöhnen!“
Gehorsam streckt Will sich auf der Matratze aus. Pippa versucht, ihn zuzudecken, aber sie hat zu wenig Kraft. Ich muss ihr helfen.
„Augen zu! Träum was Schönes von deinem neuen Leben als Mensch“, flüstert Pippa.
Will schließt mit einem Lächeln die Augen. „Morgen … morgen wird alles anders.“
Hinter dem Fenster
„Guten Morgen, Schlafmütze!“, begrüßt mich meine Mutter, als ich am nächsten Morgen die Treppe runterschlurfe. Auf dem Frühstückstisch steht nur noch ein einziger Teller.
„Wir haben schon vor mehr als einer Stunde gefrühstückt. Aber du sahst so erschöpft aus, da hab ich gedacht, ich lasse dich ausschlafen.“ Mama stellt ein fast leeres Glas Nutella auf den Tisch. „Hier, das habe ich für dich gerettet. Will hat sich das Zeug zentimeterdick aufs Brot geschmiert.“
„Danke“, gähne ich und schaue mich um. „Wo steckt er überhaupt?“
„Oh, er ist eben rüber zu Jessie gegangen. Du sollst nachkommen, hat er gesagt.“
„Hmm“, brumme ich und kratze den kläglichen Rest Nutella aus dem Glas. Es ärgert mich, dass Will einfach ohne mich losgezogen ist. Als würde er mich gar nicht mehr brauchen. Eine leise Stimme in mir flüstert, dass das bald immer so sein wird. Sobald ich ihm dabei geholfen habe, seine Flügel loszuwerden.
Nachdem ich mein Nutella-Brötchen gegessen habe, laufe ich rüber zu Jessie. Ihre große Schwester Lisa öffnet mir die Tür. „Hi. Du weißt ja, wo Jessicas Zimmer ist“, sagt sie und gibt mir das Gefühl, dass ihre frisch lackierten Fingernägel tausendmal wichtiger sind als ich.
Ich nicke und husche an ihr vorbei die Treppe hoch. Das Haus von Jessies Familie ist genauso gebaut wie unseres, und genau wie ich wohnt Jessie im ersten Stock.
Zu meiner Überraschung ist das Zimmer leer. Über Jessies Bett lächeln mir die drei Freunde von meinem Geburtstagsbild entgegen. Sonst ist niemand da – außer einer Horde Fußballspielern auf den Postern an den Wänden. Wo sind Will und Jessie?
Plötzlich höre ich vertraute Stimmen durch das gekippte Fenster dringen. „Strom“, sagt Jessie gerade. „Hmm, also Strom kann Dinge bewegen, Straßenbahnen zum Beispiel.“
Ich trete ans Fenster. Genau wie bei mir kann man auch von Jessies Zimmer aus runter in den Garten gucken. Da sind die beiden. Sie kicken langsam einen Fußball zwischen sich hin und her. Jessie erklärt: „Strom ist total nützlich – aber man muss aufpassen. Wenn man drankommt, kribbelt es oder man kriegt
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