Melina und das Geheimnis aus Stein
inbrünstig fügt er hinzu: „Er muss mir einfach helfen.“
„Das würde nichts nützen“, sage ich. Ich gehe noch schneller, doch da fasst Will mich am Arm und hält mich fest. Widerstrebend drehe ich mich zu ihm um.
Es hat angefangen zu schneien. Große Flocken sinken aus einem dunklen Himmel auf uns nieder. Normalerweise wäre Will sicher begeistert und würde mir tausend Fragen darüber stellen. Aber im Moment interessiert ihn nur eine einzige Frage. Ich merke, dass ich Angst davor habe, was passiert, wenn er sie stellt. Will hat wohl auch Angst, denn seine Stimme zittert leicht.
„Warum würde das nichts nützen?“, fragt er.
Meine Finger umklammern die Kastanie. Ihre schöne glatte Schale ist vertrocknet, jetzt fühlt sie sich in meiner Faust rau und tot an. Ich hole tief Luft. „Weil ich nicht mitmache“, sage ich dann. Ohne meine Hilfe kann Hubertus Will die Flügel nicht abnehmen.
„Oh Melina!“, seufzt Pippa irgendwo aus den Tiefen meiner Jackentasche.
Will starrt mich ungläubig an. „Du hast es versprochen“, sagt er schließlich.
„Ich weiß, aber ich hab nachgedacht“, erkläre ich und versuche, so ruhig und vernünftig zu klingen wie eine Erwachsene. „Du musst noch viel lernen. Du bist noch nicht so weit, dass du als Mensch zurechtkommst.“
„Bitte, ich werde mir noch mehr Mühe geben! Ich werde lernen, wie man Messer und Gabel richtig benutzt und die richtigen Wörter! Und ihr könnt mir doch helfen … Ihr seid doch meine Freunde, du und Jessie!“
„Ich glaube nicht, dass Jessie so eine gute Freundin ist“, antworte ich kühl.
Pippa ist an meinem Hosenbein hinuntergeklettert und steht nun frierend zwischen uns im Schnee. „Melina hat dich und Jessie vorhin zusammen im Garten gesehen, Will. Sie ist ziemlich durcheinander“, erklärt sie.
„Ich bin nicht durcheinander!“, protestiere ich. „Will ist durcheinander, das hat man ja wohl gemerkt!“ Ich würdige Will keines Blickes mehr und rede nur noch mit Pippa: „Richte ihm aus, es wäre besser für ihn, wenn er Jessie nicht mehr trifft.“
„Richte Melina aus, dass sie mir nicht verbieten kann, Jessie zu sehen!“, ruft Will.
Pippa weiß offenbar nicht, zu wem sie laufen soll, deshalb dreht sie Kreise im frischen Schnee. „Hallo, ihr seid doch beide hier!“, piepst sie unglücklich – ein verlorener rosa Punkt in all dem eisigen Weiß. „Da könnt ihr doch ganz normal miteinander reden …“
„Gut, dann sag ich dir jetzt mal was, Melina.“ Will verschränkt die Arme vor der Brust und funkelt mich an. Das ist das erste Mal, dass ich ihn wütend sehe. Wieder etwas, was er über das Menschsein gelernt hat. „Du hast kein Recht, über mich zu bestimmen! Ich bin nicht dein Spielzeug so wie Pippa! Das ist mein Leben und ich will selbst entscheiden.“
„Was für ein Leben?!“, schreie ich zurück. „Du bist kein Mensch, du bist nur ein Stein!“
Einem Stein machen Worte nichts aus, sie prallen an ihm ab. Einem Stein kann man nicht wehtun. Wills verschränkte Arme wirken jetzt nicht mehr zornig, sondern so, als versuchte er, sich selbst zu umarmen. „Anscheinend willst du mir nicht helfen, was daran zu ändern“, sagt er leise. „Aber ich finde einen Weg, ein Mensch zu werden. Auch ohne dich.“ Der Schnee knirscht unter seinen Flipflops, als er sich zum Gehen wendet.
„Bleib stehen!“, rufe ich, aber er reagiert nicht. Da greife ich nach der Kastanie in meiner Jackentasche und werfe sie nach ihm. Sie trifft ihn an der Schulter und fällt in den Schnee. „Du kannst nicht einfach weggehen, sonst …“
„Sonst was?“, fragt Will. Er reibt sich die Schulter und dreht sich noch einmal um.
„Sonst schicke ich dich wieder schlafen – und dieses Mal wecke ich dich nicht wieder auf!“, drohe ich. Meine Stimme klingt wie die einer Fremden, wie von jemandem, den ich gar nicht kennenlernen will.
Einen Augenblick herrscht absolute Stille. Der Schnee scheint sämtliche Geräusche zu schlucken. In seinem kalten Licht sehe ich unterschiedliche Gefühle über Wills Gesicht flackern: Fassungslosigkeit, Entsetzen, Angst.
Angst vor mir.
„Will, ich hab das nicht so gemeint.“ Ich strecke die Hand nach ihm aus, aber er weicht vor mir zurück. „Warte!“
Aber da rennt er los, seine Füße scheinen kaum den Boden zu berühren. Keine Chance, ihn einzuholen. Schon verschwindet sein heller Mantel im Schneetreiben.
Pippa hat sich in den Schnee fallen lassen und ich bin kurz davor, das Gleiche zu tun. Um
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