Melodie der Liebe
fern.“ Sie stellte den Kaffee auf den Schreibtisch und arrangierte alles, während sie weiterredete. „Mein Baby freut sich über die Schule und die neuen Freunde.“ Was sie nicht sagte, war, dass sie in ihre Schürze geweint hatte, als Freddie den Bus bestieg. „Jetzt, wo das Haus tagsüber leer ist, bleibt mir genug Zeit für die Arbeit. Bleiben Sie nicht zu lange wach, Dr. Kimball.“
„Nein.“ Es war eine Höflichkeitslüge. Er wusste, dass er viel zu rastlos war, um zu schlafen. „Vielen Dank, Vera.“
„De nada.“ Sie fuhr sich über das stahlgraue Haar. „Ich wollte Ihnen noch sagen, wie sehr es mir hier gefällt. Erst hatte ich ja etwas Angst davor, New York zu verlassen, aber jetzt fühle ich mich wohl.“
„Ohne Sie würden wir es nicht schaffen.“
„Sí.“ Das Lob stand ihr zu, fand sie. Seit sieben Jahren arbeitete sie nun schon für den Señor und war stolz darauf, die Haushälterin eines wichtigen Mannes zu sein. Eines anerkannten Musikers, Doktors der Musikwissenschaft und College-Professors. Seit der Geburt seiner Tochter liebte sie „ihr Baby“ und hätte für Spence gearbeitet, auch wenn er es nicht so weit gebracht hätte.
Es hatte ihr nicht gefallen, das schöne Hochhaus in New York gegen dieses geräumige Haus in der Kleinstadt einzutauschen. Aber sie war schlau genug, sich zu denken, dass der Señor es wegen Freddie tat. Erst vor einigen Stunden war Freddie aus der Schule heimgekommen, lachend, aufgeregt, die Namen ihrer neuen besten Freundinnen auf den Lippen. Also war auch Vera zufrieden.
„Sie sind ein guter Vater, Dr. Kimball.“
Spence warf ihr einen Blick zu, bevor er sich an den Schreibtisch setzte. Ihm war nur zu gut in Erinnerung, dass Vera ihn einst für einen sehr schlechten Vater gehalten hatte. „Ich lerne es.“
„Sí.“ Nebenbei schob sie ein Buch im Regal zurecht. „In diesem großen Haus brauchen Sie keine Angst zu haben, dass Sie Freddie beim Schlafen stören, wenn Sie nachts auf dem Flügel spielen.“
Er sah erneut zu ihr hinüber. Ihm war klar, dass sie ihn auf ihre Weise ermutigen wollte, sich wieder auf seine Musik zu konzentrieren. „Nein, das würde ich wohl nicht. Gute Nacht, Vera.“
Vera sah sich noch einmal prüfend um, ob es noch etwas zu tun gäbe, und ließ ihn allein.
Spence goss sich Kaffee ein und musterte die Papiere auf dem Schreibtisch. Neben seinen eigenen Unterlagen lagen die Bögen aus Freddies Schule. Er hatte noch eine Menge vorzubereiten,bevor in der nächsten Woche seine Kurse begannen.
Er freute sich darauf und versuchte, nicht daran zu denken, dass die Musik, die früher so mühelos in seinem Kopf erklungen war, nun verstummt war.
3. KAPITEL
„N atasha schob die Spange durch das Haar über ihrem Ohr und hoffte, dass sie länger als fünf Minuten an der Stelle bleiben würde, an der sie sie haben wollte. Sie betrachtete mit prüfendem Blick ihr Bild in dem schmalen Spiegel über der Spüle im Hinterzimmer des Ladens und beschloss, die Lippen noch etwas nachzuziehen. Es machte nichts, dass der Tag lang und hektisch gewesen war und ihr die Füße vor Müdigkeit schmerzten. Den heutigen Abend hatte sie sich wahrlich verdient, als Belohnung für gute Arbeit.
Jedes Semester schrieb sie sich für einen Kurs am College ein. Sie suchte sich ein möglichst lustiges, möglichst spannendes oder möglichst ungewöhnliches Thema aus. Die Dichtung der Renaissance in dem einen Jahr, Autoreparatur im anderen. Diesmal würde sie sich an zwei Abenden in der Woche der Geschichte der Musik widmen. Heute Abend würde sie in ein völlig neues Wissensgebiet vorstoßen. Alles, was sie lernte, hortete sie zu ihrem eigenen Vergnügen, so wie andere Frauen Diamanten und Smaragde sammelten. Es musste gar nicht nützlich sein. Das war ihrer Meinung nach ein funkelndes Halsband schließlich auch nicht. Es war lediglich aufregend, es zu besitzen.
Sie war mit allem Notwendigen ausgerüstet: Füllfederhalter und Bleistifte und einem Übermaß an Begeisterung. Um sich vorzubereiten, hatte sie die Bücherei geplündert und zwei Wochen lang einschlägige Bücher verschlungen. Ihr Stolz ließ es nicht zu, völlig unwissend in den Kurs zu gehen. Sie war neugierig darauf, ob der Dozent es schaffen würde, den trockenen Fakten etwas Würze und Spannung zu verleihen.
Es gab wenig Zweifel, dass der Dozent ihres Kurses in anderen Lebensbereichen für Spannung und Würze sorgte. Annie hatte ihr noch am Morgen erzählt, dass die halbe Stadt schon über
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