Melodie der Liebe
den neuen Professor am College redete. Dr. Spence Kimball.
Der Name klang in Natashas Ohren sehr seriös, ganz und gar nicht nach dem, was Annie ihr erzählt hatte. Ihre Informationen stammten von der Tochter ihrer Cousine, die sich am College zur Grundschullehrerin ausbilden ließ und im Nebenfach Musik studierte. Ein Sonnengott, so hatte Annie die Beschreibung weitergegeben und Natasha damit zum Lachen gebracht.
Ein äußerst begabter Sonnengott, dachte Natasha, während sie die Lampen im Laden ausschaltete. Sie kannte Kimballs Werke, jedenfalls die, die er komponiert hatte, bevor er das Schreiben von Musikstücken so abrupt und unerklärlich aufgegeben hatte. Sie hatte sogar nach seiner Prélude in d-Moll getanzt, damals beim Corps de Ballet in New York.
Eine Million Jahre her, dachte sie, als sie auf den Bürgersteig trat. Jetzt würde sie dem Genie persönlich begegnen, sich seine Ansichten anhören und dadurch den klassischen Stücken, die sie so liebte, vielleicht neue Bedeutung abgewinnen können.
Vermutlich ist er ein temperamentvoller Künstlertyp, malte sie ihn sich aus. Oder ein blasser Exzentriker mit Ohrring. Ihr war es egal. Sie wollte hart arbeiten. Jeder Kurs, den sie belegte, war für sie eine Sache des Stolzes. Es bohrte noch immer in ihr, wie wenig sie mit achtzehn gewusst hatte. Wie wenig sie sich für andere Dinge als den Tanz interessiert hatte. Sie hatte sich völlig auf die eine Welt konzentriert, so dass ihr andere verschlossen geblieben waren. Und als diese eine Welt ihr geraubt wurde, war sie so verloren wie ein Kind, ausgesetzt in einem Boot auf dem Atlantik.
Aber sie hatte zurück ans Ufer gefunden, so wie ihre Familie den Weg durch die Steppen der Ukraine in den Dschungel von Manhattan gefunden hatte. Sie gefiel sich jetzt besser, die unabhängige, ehrgeizige Amerikanerin, die sie geworden war. So wie sie jetzt war, konnte sie stolz wie jeder Student im ersten Semester das große, schöne alte Gebäude auf dem Campus betreten.
In den Fluren hallten Schritte, weit entferntund aus verschiedenen Richtungen. Es herrschte eine ehrfürchtige Stille, die Natasha immer mit Kirchen und Universitäten verband. In gewisser Weise gab es auch hier eine Religion, nämlich den Glauben an das Wissen.
Irgendwie empfand sie so etwas wie Ehrfurcht, als sie den Kursraum suchte. Als Kind von fünf Jahren hatte sie sich damals in dem kleinen Bauerndorf so ein Gebäude gar nicht vorstellen können. Und die Bücher und Pracht darin erst recht nicht.
Mehrere Studenten warteten schon auf den Beginn. Eine gemischte Truppe, stellte sie fest, vom College-Alter bis zu mittleren Jahren. Alle schienen sie vor freudiger Erwartung zu glühen. Die Uhr zeigte zwei Minuten vor acht. Sie hatte damit gerechnet, dass Kimball bereits vorn sitzen würde, in seinen Unterlagen wühlte, seine Studenten aus bebrillten Augen musterte und sich immer wieder durch das etwas wilde, bis zu den Schultern reichende Haar fuhr.
Geistesabwesend lächelte sie einem jungen Mann mit Hornbrille zu, der sie anstarrte, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht. Sie setzte sich und sah gleich darauf wieder auf, als der junge Mann sich umständlich hinter den benachbarten Tisch schob.
„Hi.“
Er sah sie an, als hätte sie ihn nicht gegrüßt,sondern ihm einen Knüppel über den Kopf geschlagen. Nervös schob er sich die Brille den Nasenrücken hinauf. „Hi. Ich bin … ich bin Terry Maynard“, mühte er sich ab, als wäre ihm sein Name entfallen.
„Natasha.“ Sie lächelte nochmals. Er war noch keine fünfundzwanzig und so harmlos wie ein Hundebaby.
„Ich habe dich, äh, noch nie hier gesehen.“
„Nein.“ Obwohl sie sich mit siebenundzwanzig geschmeichelt fühlte, für eine Mitstudentin gehalten zu werden, behielt sie den nüchternen Tonfall bei. „Ich habe nur diesen einen Kurs belegt. Zum Vergnügen.“
„Zum Vergnügen?“ Terry schien die Musik äußerst ernst zu nehmen. „Du weißt hoffentlich, wer Dr. Kimball ist.“ Seine Ehrfurcht war so groß, dass er den Namen fast flüsternd aussprach.
„Ich habe von ihm gehört. Du studierst Musik im Hauptfach?“
„Ja. Ich hoffe, dass ich … nun, eines Tages … bei den New Yorker Symphonikern spielen werde.“ Mit stumpfen Fingern rückte er sich die Brille zurecht. „Ich bin Violinist.“
Ihr Lächeln brachte seinen Adamsapfel zum Hüpfen. „Wie schön. Ich bin sicher, du spielst großartig.“
„Was spielst du?“
„Poker.“ Sie lachte und lehnte sich
Weitere Kostenlose Bücher