Melodie der Sehnsucht (German Edition)
kaum, dass die Mehrheit ihrer Zuhörer das Schlussgebet ebenso kurz hielt wie Fleurette. Die kleine Zofe war sicher nicht die Einzige, die frierend das Ende des Gottesdienstes erwartet hatte. Vorsichtig versuchte sie, Sabines Starre zu lösen, indem sie ihrer Herrin ein wollenes Cape über die Schultern legte. Allerdings löste sich die junge Frau erst vollständig aus ihrer Versunkenheit, als Graf Roman des Montcours, Philippes Vater, sie ansprach.
»Eine wunderschöne Andacht, Comtesse. Sehr ergreifend. Henriette wäre stolz auf Euch gewesen!«
Sabine wandte sich ihm zu, hob jedoch nur kurz den Blick.
»Das wäre sie nicht«, meinte sie bescheiden. »Sie würde nur meine Trauer darüber teilen, dass mir der Einblick in die letzten Geheimnisse des Glaubens für immer verwehrt bleiben wird.«
Henriette de Montcours, Romans Schwester und eine der einflussreichsten Parfaits der Katharer, war Sabines geistige Führerin gewesen. Wie jeder Gläubige, der das Amt des Vorbeters anstrebte, hatte sich auch Sabine eine Lehrmeisterin erwählt, in deren Haushalt sie für einige Jahre Aufnahme fand, um in die Geheimnisse der Gemeinschaft unterwiesen zu werden. Doch bevor Henriette Sabines Ausbildung für abgeschlossen erklärte, war das Unheil über die Katharer gekommen. Henriette de Montcours war mit den anderen Parfaits aus Montségur geflohen – hatte die rettende Lombardei aber nicht erreicht. Die Gemeinde hatte zwar nichts über die näheren Umstände erfahren, wusste jedoch, dass Henriette kurz vor Besteigen des Schiffes nach Italien gefasst und von einem übereifrigen Dorfgeistlichen sofort den Flammen übergeben worden war. Sabine war darüber fast erleichtert. Der Tod auf dem Scheiterhaufen war schrecklich genug – aber wenn ein Parfait den Männern des Königs in die Hände fiel, erwarteten ihn vorher noch Folterqualen. Der Monarch und die Kirche waren gleichermaßen fest davon überzeugt, dass die ›Reinen‹ Geheimnisse hüteten. Wobei sich der König weniger für die Schätze des Glaubens interessierte, als für ganz reales Gold und Juwelen. Der ›Schatz von Montségur‹ – manche sprachen sogar vom Heiligen Gral! – beflügelte die Fantasie der Belagerer der Burg. Gefunden wurde er jedoch nicht – obwohl die Eroberer kaum einen Stein auf dem anderen ließen.
Sabines Augen füllten sich erneut mit Tränen, wenn sie nur an Henriette und ihren furchtbaren Tod dachte. Sie fühlte sich nach wie vor schuldig: Hätte sie ihre Studien nur schneller voran getrieben! Dann wäre sie bei der Flucht bereits im Zustand der Reinheit und Gnade gewesen und hätte die Burg mit den anderen Parfaits verlassen.
»Ach, ich weiß nicht, Kind«, antwortete Roman, ein kräftiger, starkknochiger Ritter, der die Spiritualität seiner Schwester so gar nicht teilte. »Vielleicht ist es ganz gut, dass du dich dem Glauben noch nicht ganz verschworen hattest. So wird es dir leichter fallen, dich in dein Schicksal zu fügen.«
Roman merkte bei seiner tröstlichen Ansprache kaum, dass er Sabine unvermittelt duzte wie in den Jahren ihrer Kindheit. Henriette hatte in seinem Schloss gelebt. Während ihrer Lehrzeit war Sabine also Mitglied seines Haushalts gewesen.
Sabine merkte seine Unbotmäßigkeit denn auch nicht an.
»Mein Schicksal, Monsieur?«, fragte sie nur verwundert.
»Nun, Sabine, ich dachte, dein Vater hätte schon mit dir darüber gesprochen.« Montcours wand sich sichtlich. Er hatte erkennbar mehr gesagt, als er ursprünglich wollte. »Aber nun ... in diesen Zeiten ... kannst du natürlich nicht so weiterleben wie bisher. Versteh mich richtig, du bist uns allen eine Stütze und ein Vorbild, wenn du hier quasi das Leben einer Parfaite weiterführst. Aber auf die Dauer wird es auffallen, wenn ein Graf de Clairevaux seine Tochter nicht verheiratet.«
»Heiraten? Ich?« Sabine sah Montcours an, als sei er nicht bei Verstand. »Eine Parfaite lebt in Keuschheit, Monsieur!«
In ihrer Verwirrung vergaß die junge Frau, die Augen züchtig gesenkt zu halten, und Montcours fühlte sich von ihrem Blick magisch angezogen. Sabines Augen waren riesig: tiefe dunkelblaue Seen, in denen sich die Träume des Betrachters widerspiegelten. Die filigrane Schönheit der Feste Montségur, der Himmel über den Bergen, in dem ihrem Glauben gemäß alles Reine und Gute wohnte, die Sehnsucht nach Frieden und Liebe.
Wenn der Graf allerdings ehrlich sein sollte, so regten sich in ihm auch andere Gefühle beim Anblick ihres entrückten
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