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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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wenn sie auf das Gift blickt. Sich vorzustellen, daß ihr eigenes Herz zu schlagen aufhört und die ganze Welt, die sie kennt, ohne sie weitergeht, ist immer noch ein erschreckender Gedanke. Daher flüstert sie Karen zu: »Du mußt mir helfen! Du bist diejenige, die mir sagen muß, wann der Tag und die Stunde gekommen ist …«

    Eines Morgens ist Emilia mit Marcus allein im Schulzimmer. Johann und die älteren Jungen (auch Ingmar, der vor kurzem aus Kopenhagen zurückgekehrt ist) arbeiten draußen auf den Erdbeerfeldern. Marcus hat eine halbfertige Kohlezeichnung von einem gestreiften Luchs vor sich und sagt zu Emilia, daß er sich freut, weil das Tier auf dem Bild so echt aussieht. Er nennt den Luchs »Robinson James«, weil er weiß, daß dieser, wenn er auch hier auf dem Tisch des Schulzimmers liegt, in Wirklichkeit in Amerika lebt und deshalb einen englischen Namen haben könnte. »Robinson James«, erzählt er Emilia, »war schon in der Neuen Welt, bevor es jemand wußte.«
    »Was wußte, Marcus?«
    »Daß es die Neue Welt gibt.«
    Marcus spricht jetzt die ganze Zeit, als wolle er die Jahre des Schweigens wettmachen. Ganz allmählich taucht er aus seiner beschränkten Welt auf, in der die Verzweiflung ein Dorf und Jenseits der Verzweiflung Wildnis war. Sein Geschirr ist nur noch eine Erinnerung, und selbst diese schwindet langsam – als habe es das Geschirr nie gegeben und seien die von ihm verursachten Geräusche, das Scheuern und Quietschen, von woanders oder etwas anderem gekommen. Ihn trennt jetzt von dem, was Johann »völlig normal« nennt, nur noch seine hartnäckig anhaltende Fähigkeit, das Gewisper und Gemurmel der Tiere auf den Feldern und in den Wäldern zu hören, das außer ihm niemand wahrnimmt. Wenn er den Kopf auf die Erde legt, füllt sich dieser mit Geräuschen. Er kann ihn nicht allzulange am Boden lassen, weil er merkt, daß er dann die Kontrolle über seine Gedanken verliert und sich vorstellt, zusammen mit einem Star auf dem Zweig einer Ulme zu sitzen oder mit einem Maulwurf in der krümeligen Erde zu graben oder sogar mit einer Biene über die Blüten der weißen Johannisbeere zu kreisen. Es ist jedesmal schwierig, von dort zurückzukehren. Er fühlt sich dann so schwach und klein wie ein Glühwürmchen, das sich mit seinem winzigen Licht der Dunkelheit gegenübersieht.
    Als Emilia auf Marcus’ Bild mit dem gestreiften Luchs blickt, auf dessen Augen, die in Wirklichkeit gelb und glänzend wären, wird ihr plötzlich klar, daß dieser sie ungeduldig ansieht, daß die Welt ihr Zögern leid ist und die Zeit gekommen ist.
    Sie nimmt Marcus’ Hand und küßt sie. Sie würde ihm gern ein paar letzte Worte zuflüstern und überlegt gerade, welche das sein könnten, als sie hört, daß sich ein Pferd dem Haus nähert. Auch Marcus hört es. Er klettert vom Stuhl an seinem Arbeitstisch und läuft zum Fenster. Er berichtet Emilia, daß ein Mann in den Hof reitet.
    »Hoffentlich nicht Pastor Hansen!« sagt Emilia.
    »Nein«, antwortet Marcus, »ein Verwundeter.«
    Der Verwundete steigt vom Pferd und blickt sich um. Marcus sieht ihn zum Schulzimmerfenster heraufsehen und eine Hand zum Gruß heben; er winkt zurück.
    Emilia hat sich nicht gerührt. Der Fremde – wer immer es auch sei – soll umkehren und davonreiten! Dann denkt sie: Wie hart doch mein Herz geworden ist, wie steinhart! Ein solches Herz muß zum Stillstand gebracht werden!
    Doch dann hört sie ihren Namen rufen. Er wird wie ein Echo hereingetragen, von draußen, wo es eben noch still war.
    »Emilia!«
    Sie verhält sich ganz still. In ihrem Körper steigt so rasch und heftig Hitze auf, daß sie sich die Hände vors Gesicht hält, um ihre glühenden Wangen zu kühlen.
    Marcus sagt: »Er ruft nach dir!«
    Sie schweigt. Denn was gibt es da zu sagen, wenn sie sich doch weigert, die Hoffnung zurückkehren zu lassen? Sich ganz und gar weigert!
    »Er ruft: Emilia, Emilia …«
    Sie wird nicht aufschauen oder sich rühren oder sonst etwas tun, nur die Hände vors Gesicht halten. Nichts und niemand wird sie von ihren Zukunftsplänen abbringen! Nichts und niemand! Zeig Mut, Emilia!
    Marcus sieht ihren Starrsinn, ihre Versteinerung. Er hört das Pferd schnauben, nimmt das Seufzen und die Verzweiflung im Ruf des Verwundeten wahr. Daher läuft er in die Sonne hinaus, um ihn hereinzuholen, und fragt in einem Ton, in dem vielleicht ein Arzt mit einem Patienten spricht: »Möchtet Ihr mein Bild von Robinson James, dem gestreiften Luchs,

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